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Die Eisjungfrau

Hans Christian Andersen

III. Der Onkel

In Onkels Haus, in das nun Rudi eintrat, sahen, Gott sei Lob! die Menschen aus, wie Rudi sie zu sehen gewohnt war. Nur ein einziger Kretin wohnte augenblicklich hier; ein armer, blödsinniger Bursche, eines dieser armen Geschöpfe, die in ihrer Armut und Verlassenheit von den Familien des Kanton Wallis abwechselnd unterhalten werden und in jedem Hause ein paar Monate bleiben. Der arme Saperli war gerade hier, als Rudi ankam.

Onkel war noch ein kräftiger Jäger und verstand sich außerdem auf das Böttcherhandwerk. Seine Frau war eine kleine lebhafte Person mit einem vogelähnlichen Antlitze, mit Augen wie ein Adler und einem langen, von oben bis unten mit Flaum bedeckten Halse.

Alles war Rudi neu: Kleidung, Sitte und Gebrauch, die Sprache sogar, aber diese konnte das Kindesohr bald verstehen lernen. Im Vergleich zu dem Hause seines Großvaters machte sich überall eine gewisse Wohlhabenheit bemerkbar. Die Stube, in der sie wohnten, war größer, die Wände waren mit Gemsenhörnern und blankpolierten Büchsen geschmückt, über der Tür hing das Bild der Mutter Gottes. Frische Alpenrosen und eine brennende Lampe standen davor.

Onkel war, wie gesagt, einer der tüchtigsten Gemsenjäger der Gegend und außerdem der geschickteste und beste Führer. Es war alle Aussicht, daß Rudi hier im Hause bald der Liebling werden würde; freilich gab es einen solchen schon. Es war ein alter, blinder, tauber Jagdhund, der nicht mehr Dienste verrichten konnte, es aber einst treu und fleißig getan hatte. Man vergaß die Tüchtigkeit des Tieres in früheren Jahren nicht, und deshalb gehörte es jetzt mit zur Familie und sollte das Gnadenbrot haben. Rudi streichelte den Hund, der sich aber mit Fremden, und das war ja Rudi bis jetzt noch, nicht mehr einließ. Lange sollte es Rudi jedoch nicht bleiben; in Haus und Herz schlug er bald feste Wurzeln.

"Hier im Kanton Wallis lebt es sich nicht so übel!" sagte der Onkel. "Gemsen haben wir, sie sterben nicht so schnell wie die Steinböcke aus; es ist jetzt hier weit besser als in alter Zeit. Wie viel auch immer zu ihrer Ehre erzählt wird, die unsrige ist doch besser. Der Sack hat ein Loch bekommen, ein frischer Luftzug weht jetzt durch unser eingeschlossenes Tal. Wenn das Veraltete und Überlebte fällt, kommt immer etwas Besseres zum Vorschein" sagte er, und wurde Onkel recht gesprächig, dann erzählte er von seinen Jugendjahren, die in seines Vaters kräftigste Manneszeit fielen, wo noch Wallis, wie er sich ausdrückte, ein verschlossener Sack mit allzuviel siechen Leuten, elenden Kretins war. "Aber die französischen Soldaten kamen, sie waren die richtigen Ärzte, schlugen die Krankheiten und die Menschen gleich dazu tot. Auf das Schlagen verstehen sich die Franzosen, sie teilen Schläge mancherlei Art aus, und auch die Französinnen können Schläge versetzen!" und dabei nickte Onkel seiner Frau, die eine Französin von Geburt war, freundlich zu und lachte. "Die Franzosen verstehen das Steineschlagen meisterlich! Die Simplonstraße haben sie in die Felsen hineingeschlagen, haben dort eine Straße angelegt, daß ich jetzt zu einem dreijährigen Kinde sagen kann: Gehe nach Italien hinab, halte Dich immer nur auf der Landstraße! Und das Kleine findet sich nach Italien hinunter, wenn es nicht von der Landstraße abweicht!" Dann sang der Onkel ein französisches Lied und brachte ein Hoch auf Napoleon Bonaparte aus.

Damals hörte Rudi zum erstenmal von Frankreich, von Lyon, der großen Stadt an der Rhone, wo Onkel gewesen war.

In nicht allzu vielen Jahren würde Rudi gewiß ein flinker Gemsenjäger werden, Anlagen hätte er dazu, meinte Onkel, und er lehrte ihn, eine Büchse im Anschlage zu halten, zielen und sie abschießen. Während der Jagdzeit nahm er ihn mit auf die Berge, ließ ihn von dem warmen Gemsenblute trinken, was, wie man dort allgemein glaubt, den Jäger schwindelfrei machen soll. Er machte ihn mit der Zeit bekannt, in den auf den verschiedenen Bergseiten die Lawinen zu rollen pflegen, um Mittag oder zur Abendzeit, je nach den Wirkungen der Sonnenstrahlen. Er hielt ihn an, die Gemsen recht zu beobachten und von ihnen zu lernen, wie man nach dem Sprunge auf die Füße fallen und feststehen müßte. Fände man in der Felsenspalte keine Stütze für den Fuß, so müßte man zusehen, sich mit den Ellenbogen zu stützen, sich mit den Muskeln in Waden und Schenkeln anzuklammern. Selbst der Nacken könnte sich im Notfalle förmlich festbeißen. Die Gemsen wären klug und stellten Vorposten aus, aber der Jäger müßte klüger sein und ihnen den Wind abzugewinnen suchen. Er verstände es, sie in ergötzlicher Weise zu überlisten, hinge seinen Rock und Hut auf den Alpenstock, und die Gemsen nähmen das Kleid für den Mann. Diesen Spaß trieb Onkel eines Tages, als er mit Rudi auf der Jagd war.

Der Felsenpfad war schmal, ja es war eigentlich keiner vorhanden, sondern ein nur kaum bemerkbarer Sims dicht neben dem schwindelnden Abgrund. Der Schnee dort war halb aufgetaut, das Gestein so verwittert, das es beim Auftreten zerbröckelte; Onkel legte sich deshalb, so lang er war, hin, und kroch vorwärts. Jeder Stein, der sich löste, fiel, prallte gegen, sprang, rollte und machte viele Sprünge von Felsenwand zu Felsenwand, ehe er in der dunklen Tiefe zur Ruhe kam. Hundert Schritte hinter dem Onkel stand Rudi auf dem äußersten festen Felsenknoten und erblickte in der Luft, langsam über Onkel hinschwebend, einen Lämmergeier, der mit seinen Flügelschlägen den kriechenden Wurm mit seinen Flügelschlägen in den Abgrund schleudern wollte, um ihn zur künftigen Nahrung in Aas zu verwandeln. Onkel hatte nur für die Gemse, die jenseits der Kluft mit ihrem Zicklein sichtbar wurde, Augen. Rudi verließ den Vogel mit keinem Blicke, verstand, was er wollte, und behielt deshalb die Hand am Drücker, um schnell feuern zu können. Da setzte die Gemse zum Sprunge an, Onkel schoß, und das Tier war von der tödlichen Kugel getroffen, während das Zicklein, das ein ganzes Leben in Flucht und Gefahr zugebracht hatte, in weiten Sätzen entsprang. Der ungeheure Vogel, vom Knalle erschreckt, schlug eine andere Richtung ein, Onkel wußte nichts von der Gefahr, in der er geschwebt hatte, hörte sie erst von Rudi.

Als sie sich jetzt in bester Stimmung auf den Weg machten und Onkel ein Lied aus seinen Knabenjahren pfiff, erschallte auf einmal ein eigentümlicher Laut in nicht allzu weiter Ferne. Sie schauten nach allen Seiten, sie schauten aufwärts, und dort in der Höhe, auf dem schrägen Felsenabsatz, erhob sich die Schneedecke, es wogte, wie wenn der Wind unter ein ausgebreitetes Stück Leinwand fährt. Die hochgehobenen Wogen brachen plötzlich in sich zusammen und lösten sich in scheinbar schäumende Wasserstrudel auf, die prasselnd wie gedämpftes Donnergeroll hinabstürzten. Es war eine Lawine, die hinabfiel, nicht über Rudi und seinen Onkel, aber nahe, nur allzu nahe neben ihnen.

"Halte Dich fest, Rudi!" reif er. "Fest, aus allen Kräften!"

Rudi umklammerte den nächsten Baum, Onkel kletterte über ihn in die Zweige des Baumes hinauf und hielt sich fest, während die Lawine viele Meter von ihnen entfernt hinabrollte; aber der durch sie erregte Sturm, der Wirbelwind, der sie begleitet, knickte und brach ringsum Bäume und Büsche, als wären sie dürre Rohrstengel und warf sie weit umher. Rudi wurde zu Boden geschmettert; der Baumstamm, an dem er sich hielt, war wie zersägt, und die Krone ein weites Stück fortgeschleudert. Zwischen den zerknickten Zweigen lag mit zerschmettertem Haupte der Onkel, seine Hand war noch warm, aber sein Gesicht nicht zu erkennen. Bleich und zitternd stand Rudi da; es war der erste Schreck in seinem Leben, das erste Gefühl von Furcht, das er empfand.

Mit der Todesbotschaft kam er spät am Abend nach Hause, wo nun die Trauer einzog. Wortlos, tränenlos stand die Gattin da, und erst als die Leiche gebracht wurde, kam der Schmerz zum Ausbruch. Der arme Kretin kroch in sein Bett, man sah ihn den ganzen Tag nicht. Gegen Abend kam er zu Rudi.

"Schreibe mir einen Brief! Saperli kann nicht schreiben! Saperli kann aber den Brief auf die Post tragen!"

"Einen Brief für Dich?" fragte Rudi. "Und an wen?"

"An den Herrn Christus!"

"Wen meinst Du damit?"

Und der Halbblödsinnige, den sie einen Kretin nannten, sah Rudi mit einem rührenden Blicke an, faltete seine Hände und sagte dann feierlich und fromm: "Jesus Christus! Saperli will ihm einen Brief senden, will ihn bitten, daß Saperli tot daliegen muß und nicht der Mann hier im Hause!"

Rudi drückte ihm Die Hand "Der Brief kommt nicht an sein Ziel! Der Brief gibt ihn uns nicht zurück."

Es war Rudi schwer, ihm die Unmöglichkeit zu erklären.

"Nun bist die Stütze des Hauses", sagte die Pflegemutter, und Rudi wurde es.

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