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Die Eisjungfrau

Hans Christian Andersen

V. Auf dem Heimwege

Oh, wie vieles hatte Rudi zu tragen, als er am nächsten Tage über die hohen Berge heimwärts ging! Ja, er hatte drei silberne Becher, zwei ausgezeichnete Büchsen und eine silberne Teekanne, von der man Gebrauch machen konnte, wenn man einen Hausstand begründete. Das war jedoch noch nicht das am meisten ins Gewicht Fallende. Etwas Gewichtigeres, Mächtigeres trug er, oder trug ihn vielmehr über die Berge nach Hause. Aber das Wetter war rauh, der Himmel grau, trüb und schwer. Die Wolken senkten sich wie Trauerschleier über die Bergeshöhen und hüllten die weithin leuchtenden Berggipfel ein. Aus dem Waldgrunde schallten die letzten Axtschläge, und die Berge abwärts rollten Baumstämme, die sich von der Höhe aus wie leichtes Schnitzwerk, in der Nähe dagegen wie schwere Mastbäume ausnahmen. Die Lütschine rauschte in ihren einförmigen Akkorden, der Wind sauste, die Wolken segelten. Dicht neben Rudi ging plötzlich ein junges Mädchen, das er nicht eher bemerkt hatte, als bis es ihm unmittelbar zur Seite ging. Es wollte ebenfalls über das Gebirge. Des Mädchens Augen hatten eine eigentümliche Macht, man mußte in sie hineinschauen, sie waren so sonderbar glashell, so tief, so bodenlos.

"Hast Du einen Liebsten?" fragte Rudi. Seine Gedanken drehten sich nur darum, daß man eine Liebste haben müßte.

"ich habe keinen!" sagte das Mädchen und lachte, aber es war, als ob es nicht die Wahrheit spräche. "Laß uns keinen Umweg machen!" fuhr es fort. "Wir müssen uns mehr nach links halten; es ist kürzer!"

"Ja, um in eine Eisspalte zu fallen!" erwiderte Rudi. "Weißt Du den Weg nicht besser und willst Führerin sein?"

"Ich kenne den Weg recht gut und habe meine vollen Gedanken beisammen. Deine weilen wahrscheinlich noch unten im Tale. Hier oben muß man an die Eisjungfrau denken. Sie ist den Menschen nicht gut, sagen die Menschen."

"Ich fürchte sie nicht", versetzte Rudi, "hat sie mich loslassen müssen, als ich noch ein Kind war, so werde ich ihr jetzt, wo ich älter bin, auch wohl entgehen."

Und die Finsternis nahm zu, der Regen fiel, der Schnee kam, er leuchtete, er blendete.

"Reiche mir Deine Hand, damit ich Dir beim Steigen helfen kann!" sagte das Mädchen und berührte sie mit eiskalten Fingern.

"Du mir helfen!" rief Rudi. "Noch nie bedurfte ich Weiberhilfe zum Klettern!" Er ging rascher zu, fort von ihr. Das Schneegestöber hüllte ihn gleichsam in einen Vorhang ein, der Wind sauste, und hinter sich hörte er, wie das Mädchen lachte und sang. Es klang so seltsam. Es gab soviel Zauberspuk im Dienste der Eisjungfrau. Rudi hatte davon gehört, wie er als Kind auf seiner Wanderung über die Berge hier oben übernachtete.

Der Schnee fiel dünner, die Wolken lagen unter ihm. Er schaute zurück, und niemand war mehr zu sehen, aber er hörte Lachen und Jodeln, und es tönte nicht, als ob es von einem Menschen herrührte.

Als Rudi endlich die obersten Gipfel des Berges erreichte, wo sich der Gebirgspfad nach dem Rhonetale abwärts senkte, erblickte er in dem hellen blauen Luftstreifen, in der Richtung auf Chamonix, zwei funkelnde Sterne, und er dachte an Babette, an sich und sein Glück, und wurde bei den Gedanken warm.

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