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Die Eisjungfrau

Hans Christian Andersen

XI. Der Vetter

Als Rudi ein paar Tage später zu dem Müller auf Besuch kam, fand er den jungen Engländer daselbst; Babette setzte ihm gerade gekochte Forellen vor, die sie jedenfalls eigenhändig mit Petersilie ausgeputzt hatte, sonst hätten sie nicht so einladend aussehen können. Das hatte sie durchaus nicht nötig. Was wollte überhaupt der Engländer hier? Was konnte er nur hier wollen? Sich etwa von Babette traktieren und sie den Mundschenk spielen lassen? Rudi war eifersüchtig und das amüsierte Babette; es machte ihr Freude, ihn von allen Seiten seines Herzens, den starken, wie den schwachen, kennen zu lernen. Die Liebe war ihr bis jetzt noch ein Spiel, und sie spielte mit Rudis Herzen, und dennoch, das muß man zugestehen, war er allein ihr Glück, der einzige Gedanke ihres Lebens, das beste und herrlichste in dieser Welt. Aber je finsterer er dreinschaute, desto mehr lachten ihre Augen, sie würde den blonden Engländer mit dem rötlichen Backenbarte gern geküßt haben, hätte sie es dadurch zuwege gebracht, daß Rudi rasend und wütend fortliefe. Das hätte ihr ja gerade den Beweis geliefert, wie sehr sie von ihm geliebt wurde. Recht und klug handelte die kleine Babette darin freilich nicht, aber sie war ja auch erst neunzehn Jahre. Sie bedachte das nicht, bedachte noch weniger, wie ihr Betragen ausgelegt werden konnte, von dem jungen Engländer sicherlich leichtfertiger und lebensfroher, als sich für des Müllers ehrbare und neuverlobte Tochter schickte.

Wo die Landstraße von Bex unter der schneebedeckten Felsenspitze hinläuft, die in der Landessprache Diablerets heißt, lag die Mühle unweit eines reißenden Gebirgsstromes, der eine weißlichgraue Farbe wie gepeitschtes Seifenwasser hatte. Die Mühle trieb er aber nicht, vielmehr tat das ein kleiner Gießbach der auf dem anderen Ufer des Flusses vom Felsen hinabstürzte und sich durch einen steinernen Abzugskanal unter der Straße hindurch infolge seiner Kraft und Schnelligkeit wieder erhob und dann in einer breiten, von starken Balken gezimmerten und auf allen Seiten geschlossenen Rinne über den reißenden Fluß lief. Die Rinne war so reichhaltig an Wasser, daß es überströmte und deshalb demjenigen, der auf den Einfall geriet, die Mühle auf diesem Weg schneller zu erreichen, nur einen nassen und schlüpfrigen Pfad darbot. Und auf diesen Einfall geriet ein junger Mann: der Engländer. Weißgekleidet wie ein Müllerbursche trat er in der Abendstunde, von dem Lichtschimmer geleitet, der aus Babettes Kammer fiel, seine Kletterwanderung an. Klettern war seine Stärke nicht, das hatte er nicht gelernt, und beinahe wäre er häuptlings in den Strom gefallen, kam aber mit durchnäßten Ärmeln und bespritzten Beinkleidern fort. Durchnäßt und beschmutzt kam er unter Babettes Fenstern an, wo er in die alte Linde hinaufkletterte und das Geschrei einer Eule nachahmte; das war der einzige Vogel, dessen Töne er einigermaßen nachmachen konnte. Babette hörte es und guckte durch die dünnen Vorhänge hindurch, als sie aber den weißen Mann gewahrte und sich denken konnte, wer es war, schlug ihr kleines Herz vor Schrecken und zugleich vor Zorn. Schnell löschte sie das Licht, fühlte, ob alle Fensterriegel vorgeschoben waren, und ließ ihn dann tuten und heulen.

Schrecklich müßte es sein, wenn Rudi jetzt hier in der Mühle wäre; aber Rudi war nicht in der Mühle, nein, es war weit schlimmer er befand sich gerade davor.

Laute zornige Worte wurden gewechselt; es schien zur Schlägerei kommen zu wollen; vielleicht gab es gar Mord und Totschlag.

In ihrer Angst öffnete Babette ihr Fenster, rief Rudi bei Namen und bat ihn, doch zu gehen; sie könnte, sagte sie, es nicht dulden, daß er hierbliebe.

"Du duldest es nicht, daß ich bleibe!" brach er zornig aus, "es ist also eine Verabredung! Du erwartest gute Freunde, bessere als ich! Schäme Dich, Babette!"

"Du bist abscheulich!" erwiderte Babette. "Ich hasse Dich!" und dabei brach sie in Tränen aus. "Geh, geh!"

"Das habe ich nicht verdient!" entgegnete er und ging; seine Wangen brannten wie Feuer, sein Herz brannte wie Feuer.

Babette warf sich auf ihr Bett und weinte.

"So innig liebe ich Dich, Rudi, und Du kannst so übel von mir denken!"

Und sie war böse, und das war gut für sie, sonst wäre sie tief betrübt gewesen. Nun konnte sie in Schlaf fallen und den stärkenden Schlaf der Jugend schlafen.

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