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Das Gespenst von Canterville

Oscar Wilde

Kapitel III

Als sich die Familie Otis am nächsten Morgen beim Frühstück zusammenfand, wurde recht ausführlich über das Gespenst gesprochen. Der Gesandte der Vereinigten Staaten war natürlich ein wenig verärgert, als er feststellte, daß seine Gabe verschmäht worden war. "Ich hege nicht das Verlangen, dem Gespenst eine persönliche Kränkung zuzufügen", bemerkte er, "und ich muß sagen, daß ich es in Anbetracht seines langen Aufenthalts im Hause für keineswegs höflich halte, Kissen nach ihm zu werfen" - eine sehr zutreffende Bemerkung, über die jedoch die Zwillinge, wie ich leider zugeben muß, in jubelndes Gelächter ausbrachen. "Andrerseits", fuhr er fort, "wenn es sich wirklich weigert, das Sonnenaufgang-Öl zu benutzen, werden wir ihm wohl seine Ketten abnehmen müssen. Bei einem solchen Lärm vor den Schlafzimmern dürfte es unmöglich sein, zur Ruhe zu kommen."

Den Rest der Woche blieben sie jedoch ungestört; das einzige, was ihre Aufmerksamkeit erregte, war die ständige Erneuerung des Blutflecks auf dem Fußboden der Bibliothek. Das war höchst verwunderlich, weil Mr. Otis jeden Abend die Tür abschloss und die Fenster fest verriegelt hielt. Auch gab die chamäleonartige Färbung des Flecks Anlass zu vielen Deutungen. An manchen Morgen war er dunkel (fast indischrot), dann wieder scharlachfarben oder von einem kräftigen Purpur, und einmal, als sie sich zum häuslichen Gebet nach den schlichten Bräuchen der amerikanischen Freien Reformierten Episkopalkirche versammelten, fanden sie ihn in leuchtendem Smaragdgrün. Dieser kaleidoskopartige Wechsel bereitete der Familie natürlich viel Vergnügen, und jeden Abend wurden zwanglos Wetten darüber abgeschlossen. Die einzige, die sich an dem Spaß nicht beteiligte, war die kleine Virginia, die der, Anblick des Blutflecks aus irgendeinem unbekannten Grund stets betrübte und die an jenem Morgen, als er smaragdgrün war, fast geweint hätte.

Das zweitemal erschien das Gespenst in der Sonntagnacht. Kurz nachdem alle zu Bett gegangen waren, wurden sie plötzlich durch einen fürchterlichen Krach in der Halle aufgeschreckt. Sie eilten hinunter und entdeckten, daß eine vollständige alte Rüstung von ihrem Gestell auf den Steinfußboden gefallen war, während das Gespenst von Canterville in einem hochlehnigen Armstuhl saß und sich mit einem Ausdruck heftiger Seelenpein die Knie rieb. Die Zwillinge, die ihre Blasrohre mitgebracht hatten, schossen sogleich zwei Kügelchen auf das Gespenst ab, und zwar mit einer Zielsicherheit, die man nur durch lange und sorgfältige Übung an einem Schreiblehrer erwerben kann, und der Gesandte der Vereinigten Staaten richtete seinen Revolver auf das Gespenst und forderte es nach guter kalifornischer Sitte auf, die Hände hochzuheben! Mit einem wilden Schrei der Wut sprang das Gespenst auf und fegte wie ein Nebel durch ihre Mitte, wobei es im Vorüberstreichen Washington Otis' Kerze auslöschte und sie in völliger Dunkelheit zurückließ. Als es den obersten Treppenabsatz erreicht hatte, fing es sich wieder und beschloss, in sein berühmtes dämonisches Gelächter auszubrechen. Das hatte es bei mehr als einer Gelegenheit als ungemein nützlich erkannt. Es hieß, Lord Rakers Perücke sei deswegen in einer einzigen Nacht ergraut, und ganz gewiss hatte es drei von Lady Cantervilles französischen Gouvernanten veranlasst, fristlos zu kündigen. Also lachte es sein grässlichstes Lachen, bis es von dem alten Deckengewölbe ein übers andere Mal widerhallte; doch kaum war das grausige Echo erstorben, da tat sich eine Tür auf, und Mrs. Otis trat in einem lichtblauen Morgenrock heraus. "Ich fürchte, Ihnen ist nicht recht wohl", sagte sie, "deshalb bringe ich Ihnen eine Flasche Dr. Dobells Tropfen. Falls Sie an schlechter Verdauung leiden, werden Sie darin ein ganz vorzügliches Heilmittel finden." Das Gespenst glotzte sie wütend an und machte sogleich Anstalten, sich in einen großen schwarzen Hund zu verwandeln, ein Kunststück, für das es mit Recht berühmt war und dem der Hausarzt die permanente Idiotie des Ehrenwerten Thomas Horton, Lord Cantervilles Onkel, zuschrieb. Das Geräusch näher kommender Schritte machte es jedoch unschlüssig in seinem grausamen Vorhaben; deshalb begnügte es sich damit, schwach zu phosphoreszieren, und verschwand mit einem tiefen Kirchhofsseufzer gerade in dem Augenblick, als die Zwillinge bei ihm angelangt waren.

In seiner Kammer brach es dann völlig zusammen, eine Beute der heftigsten Gemütsbewegung. Das pöbelhafte Benehmen der Zwillinge und der unfeine Materialismus dieser Mrs. Otis waren natürlich im höchsten Grade ärgerlich; am meisten brachte es jedoch wirklich zur Verzweiflung, daß es nicht imstande gewesen war, die Rüstung zu tragen. Es hatte gehofft, sogar moderne Amerikaner würden beim Anblick eines 'Geistes im Harnisch' schaudern, wenn schon aus keinem vernünftigeren Grund, so doch wenigstens aus Achtung vor ihrem Nationaldichter Longfellow, über dessen anmutiger und reizvoller Poesie es selbst manch leidige Stunde verbracht hatte, wenn die Cantervilles in London waren. Noch dazu war es seine eigene Rüstung! Es hatte sie mit großem Erfolg bei dem Turnier von Kenilworth getragen und war deswegen von niemand Geringerem als der jungfräulichen Königin mit schmeichelhaften Komplimenten bedacht worden. Als es sie jedoch vorhin hatte anlegen wollen, war es von dem Gewicht des mächtigen Brustharnischs und der stählernen Sturmhaube völlig niedergedrückt worden und schwer auf den Steinboden gestürzt, wobei es sich heftig die Knie aufgeschlagen und die Knöchel zerschunden hatte.

Noch mehrere Tage danach fühlte sich das Gespenst schwerkrank und rührte sich kaum aus seinem Gemach, außer um den Blutfleck in geziemendem Zustand zu erhalten. Da es sich jedoch sehr in acht nahm, erholte es sich wieder und beschloss, ein drittes Mal zu versuchen, ob es dem Gesandten der Vereinigten Staaten und seiner Familie nicht einen Schreck einjagen könne. Es wählte für sein Erscheinen Freitag, den 17. August, und verbrachte den größten Teil dieses Tages damit, seine Garderobe zu prüfen, bis es sich schließlich für einen gewaltigen Schlapphut mit roter Feder, ein Leichenhemd mit Falbeln an Hals und Handgelenken und einen rostigen Dolch entschied. Gegen Abend ging ein heftiger Platzregen nieder, und der Wind blies so stark, daß alle Fenster und Türen in dem alten Haus rüttelten und klapperten. Das war allerdings genau das Wetter, das es liebte. Sein Gefechtsplan war folgender: Es wollte lautlos in Washington Otis' Zimmer schleichen, ihm vom Fußende des Bettes kauderwelsches Zeug zuschnattern und sich zum Klang einer getragenen Musik dreimal den Dolch in die Kehle stoßen. Gegen Washington hegte es besonderen Groll, da ihm völlig klar war, daß dieser den berühmten Blutfleck von Canterville durch Pinktertons Intensivreiniger zu entfernen pflegte. Wenn es den rücksichtslosen und dummdreisten Jüngling in einen Zustand elendiglichen Grausens versetzt hatte, wollte es weitergehen zu dem Zimmer, das der Gesandte der Vereinigten Staaten und seine Frau innehatten, und dort eine feuchtkalte Hand auf Mrs. Otis' Stirn legen, während es ihrem zitternden Gatten die grässlichsten Geheimnisse des Beinhauses ins Ohr zischte. Hinsichtlich der kleinen Virginia war es noch zu keinem Entschluss gekommen. Es war von ihr nie auf irgendeine Weise beleidigt worden, und sie war hübsch und freundlich. Ein paar hohle Seufzer aus dem Kleiderschrank hielt es für mehr als ausreichend, und wenn sie das nicht weckte, könnte es vielleicht mit krampfhaft zuckenden Fingern an ihrer Bettdecke krabbeln. Was die Zwillinge betraf, so war es fest entschlossen, ihnen eine Lehre zu erteilen. Zunächst mußte es sich ihnen natürlich auf die Brust setzen, um das erstickende Gefühl eines Alpdrucks hervorzurufen. Dann wollte es sich, da ihre Betten dicht nebeneinander standen, in der Gestalt eines grünen, eiskalten Leichnams zwischen ihnen aufpflanzen, bis sie vor Furcht gelähmt waren, und schließlich das Sterbehemd abwerfen und mit weißgebleichten Knochen und einem rollenden Augapfel als 'Stummer Daniel oder Das Skelett des Selbstmörders' im Zimmer herumkriechen, eine Rolle, in der es bei mehr als einer Gelegenheit eine große Wirkung erzielt hatte und die seiner Meinung nach jener berühmten als 'Martin der Wahnsinnige oder Das maskierte Geheimnis' völlig gleichkam.

Um halb elf hörte es die Familie zu Bett gehen. Eine Zeitlang wurde es noch durch das ungestüme Gelächter der Zwillinge gestört, die sich mit der sorglosen Heiterkeit von Schulbuben augenscheinlich noch vergnügten, ehe sie sich zur Ruhe legten; aber um Viertel zwölf war alles still, und als es Mitternacht tönte, machte sich das Gespenst auf den Weg. Die Eule schlug an die Fensterscheiben, der Rabe krächzte aus der alten Eibe, und der Wind fuhr klagend wie eine verlorene Seele um das Haus; doch die Familie Otis schlief und ahnte nichts von ihrem Schicksal, und lauter als Regen und Sturm konnte das Gespenst das regelmäßige Schnarchen des Gesandten der Vereinigten Staaten vernehmen. Verstohlen trat es aus der Wandtäfelung, ein böses Lächeln um den grausamen, verrunzelten Mund, und der Mond verbarg sein Gesicht in einer Wolke, als es sich an dem großen Erker vorbeischlich, wo sein Wappen und das seines ermordeten Weibes in Azur und Gold gemalt waren. Weiter und weiter glitt es wie ein verruchter Schatten, selbst die Dunkelheit schien vor ihm zurückzubeben. Einmal glaubte es rufen zu hören und blieb stehen, aber es war nur das Gebell eines Hundes vom Roten Pachtgut, und es ging weiter, wobei es seltsame Flüche aus dem sechzehnten Jahrhundert brabbelte und hin und wieder mit dem rostigen Dolch durch die mitternächtliche Luft fuchtelte. Endlich erreichte es die Ecke des Korridors, der zu dem Zimmer des unseligen Washington führte. Hier hielt es einen Augenblick inne, während ihm der Wind die langen grauen Locken um den Kopf wehte und den unsäglichen Greuel des Totenhemds zu grotesken und phantastischen Falten wand. Dann schlug die Uhr ein Viertel, und es fühlte, daß seine Zeit gekommen war. Es kicherte vor sich hin und ging um die Ecke; doch kaum hatte es das getan, da fuhr es mit einem jammervollen Klagelaut zurück und verbarg das gebleichte Gesicht in den langen Knochenhänden. Genau vor ihm stand ein grässliches Gespenst, reglos wie eine gemeißelte Bildsäule und missgestalt wie der Traum eines Wahnsinnigen! Sein Kopf war kahl und blank poliert, sein Gesicht rund und feist und weiß, und ein abscheuliches Lachen schien seine Züge zu ewigem Grinsen verzerrt zu haben. Aus den Augen schossen Strahlen scharlachroten Lichts, der Mund war ein weit offenes Feuerloch, und ein widerwärtiges Gewand, seinem eigenen gleich, umhüllte mit seinen lautlosen Schneemassen die Titanengestalt. Auf der Brust trug es ein Plakat mit sonderbarer Schrift in altertümlichen Lettern, ein Verzeichnis der Schande, wie es schien, ein Bericht über schauervolle Sünden, eine furchtbare Liste von Verbrechen, und in der Rechten hielt es hocherhoben ein Schwert von schimmerndem Stahl.

Da das Gespenst nie zuvor ein Gespenst gesehen hatte, bekam es natürlich einen fürchterlichen Schreck, und nachdem es einen zweiten, hastigen Blick auf die grausige Erscheinung geworfen hatte, floh es zurück in sein Zimmer, wobei es, als es den Gang hinuntereilte, ständig über sein langes Leichenhemd stolperte und schließlich den rostigen Dolch in die Stiefel des Gesandten fallen ließ, wo er morgens von dem Butler gefunden wurde. Endlich wieder in der Abgeschiedenheit seines Gemachs, warf es sich auf ein schmales Feldbett und verbarg das Gesicht unter den Decken. Doch eine Weile später siegte der wackere alte Cantervillegeist, und das Gespenst beschloss, sobald der Tag anbrach, hinzugeben und mit dem anderen Gespenst zu reden. Folglich kehrte es, als eben der Dämmerschein die Hügel mit Silber überhauchte, zu der Stelle zurück, wo sein Blick auf das greuliche Phantom gefallen war, weil es trotz allem das Gefühl hatte, zwei Gespenster wären besser als eines, und mit Hilfe seines neuen Freundes werde es unbeschadet mit den Zwillingen fertig werden. Doch als es die Stelle erreichte, bot sich ihm ein entsetzlicher Anblick. Offensichtlich war dem Gespenst etwas zugestoßen, denn aus seinen hohlen Augen war das Licht geschwunden, das schimmernde Schwert war ihm aus der Hand gefallen, und es lehnte in einer gezwungenen und unbequemen Haltung an der Wand. Das Gespenst von Canterville stürzte vor und umschlang das andere, worauf zu seinem Entsetzen der Kopf abfiel und zu Boden rollte, der Rumpf einsackte, und das Gespenst von Canterville entdeckte, daß es einen Bettvorhang aus weißem Baumwollstoff im Arm hielt und zu seinen Füßen ein Besen, ein Hackmesser und eine ausgehöhlte Rübe lagen! Unfähig, diese merkwürdige Verwandlung zu begreifen, riss es in fieberhafter Hast das Plakat an sich und las darauf im grauen Morgenlicht die furchtbaren Worte:

Wir, das Gespenst der Otis,
Wir, der einzig echte Originalspuk.
Vor Nachahmungen wird gewarnt,
Alle anderen sind gefälscht

Blitzartig wurde ihm die ganze Sache klar. Es war hinters Licht geführt, geprellt und übertölpelt worden! Der alte Canterville-Blick kam in seine Augen, es knirschte mit den zahnlosen Gaumen, und während es seine verdorrten Hände hoch über den Kopf hob, schwur es in der bildhaften Ausdrucksweise der alten Schule, wenn Chanticleer zum zweitenmal in sein munteres Horn gestoßen habe, würden blutige Taten geschehen, und auf leisen Sohlen werde der Mord umgehen.

Kaum hatte es diesen grässlichen Schwur beendet, da krähte auch schon ein Hahn von dem roten Ziegeldach eines entfernten Gehöfts. Das Gespenst lachte ein langes und tiefes bitteres Lachen und wartete. Stunde um Stunde wartete es, aber aus irgendeinem merkwürdigen Grunde krähte der Hahn kein zweites Mal. Schließlich, um halb acht, sah es sich durch das Nahen der Hausmädchen veranlasst, seine grausige Wache aufzugeben, und schlich in sein Gemach zurück, wobei seine Gedanken um die trügerische Hoffnung und das vereitelte Vorhaben kreisten. Es zog mehrere Bücher über das alte Rittertum zu Rate, die es über alles liebte, und stellte fest, daß noch bei jeder Gelegenheit, da sein Schwur getan worden war, Chanticleer ein zweites Mal gekräht hatte. "Verderben komme über den nichtsnutzigen Vogel", murmelte es, "ich habe den Tag erlebt, da ich ihm meinen wackeren Speer durch die Kehle gerannt hätte, auf daß er für mich krähte, sei's auch im Tode!" Darauf legte es sich in einem komfortablen Bleisarg zur Ruhe und blieb dort bis zum Abend.