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Die Eisjungfrau

Hans Christian Andersen

IV. Babette

Wer ist der beste Schütze im Kanton Wallis? Nun, die Gemsen wußten es. "Nimm Dich vor Rudi in acht!" konnten sie sagen. "Wer ist der schönste Schütze?" "Je nun, das ist der Rudi!" sagten die Mädchen, aber sie setzten nicht hinzu: "Nimm Dich in acht!" Nicht einmal die ernsten Mütter sagten es, denn er nickte ihnen ebenso freundlich zu wie den jungen Mädchen. Er war kühn und frohgesinnt, seine Wangen waren braun, seine Zähne weiß und seine Augen leuchteten kohlschwarz; ein schöner Bursch war er und nur zwanzig Jahre. Das Eiswasser kam ihm nicht kalt vor, wenn er schwamm; wie ein Fisch konnte er sich im Wasser wenden und drehen, klettern wie kein anderer, wie eine Schnecke an die Felsenwände kleben; es war Mark in ihm; stahlfest waren seine Muskeln und Sehnen. Das bewies er auch beim Springen, der Kater hatte ihn ja zuerst gelehrt und später die Gemsen. Er war der zuverlässigste Führer, er hätte als solcher ein ganzes Vermögen sammeln können. Für das Böttcherhandwerk, in dem ihn Onkel ebenfalls unterrichtet hatte, fehlte es ihm an Sinn; Gemsen zu schießen war seine Lust und Sehnsucht; das brachte nicht weniger Geld ein. Rudi war, wie man sagte, eine gute Partie, wollte er nur seinen Augen nicht über seinen Stand erheben. Er war beim Tanze ein Tänzer, von dem die Mädchen träumten, und eine und die andere dachte seiner auch wachend.

"Mich hat er im Tanze geküßt!" sagte Schullehrers Anette zu ihrer liebsten Freundin, aber das hätte sie nicht erzählen sollen, nicht einmal ihrer liebsten Freundin. Dergleichen ist nicht leicht bei sich zu behalten, es gleicht dem Sande im durchlöcherten Sacke, der ausläuft. Bald wußte man, wie gut und brav Rudi auch sonst war, daß er im Tanze küßte, und doch hatte er nicht einmal die geküßt, die er am liebsten geküßt hätte.

"Paß auf ihn auf!" sagte ein alter Jäger, "er hat Anette geküßt; er hat mit A angefangen und wird das ganze Alphabet durchküssen."

Ein Kuß bei Tanze war bisher alles, was die Klatschschwestern über ihn zu berichten wußten, aber geküßt hatte er wirklich Anette, und sie war keineswegs seines Herzens Blume.

Unten in der Nähe von Bex, zwischen den großen Walnußbäumen, hart an einem kleinen, reißenden Bergstrome wohnte der reiche Müller. Das Wohnhaus, ein großes, dreistöckiges Gebäude mit kleinen Türmen, war mit Schindeln gedeckt und mit Blechplatten beschlagen, die im Sonnen- wie im Mondenscheine weithin leuchteten. Der größte Turm hatte einen schimmernden Pfeil, der einen Apfel durchbohrte, als Wetterfahne. Es sollte damit auf Tells Pfeilschuß hingedeutet werden. Die Mühle verriet schon im Äußern Wohlhabenheit und sah schön und stattlich aus; der Maler, der sie sah, griff unwillkürlich zum Pinsel, um sie zu malen, aber des Müllers Tochter ließ sich nicht malen, ließ sich nicht beschreiben. Dies behauptete Rudi wenigstens, während doch ihr Bild in seinem Herzen lebte. Ihre Augen strahlten darin so, daß es in hellen Flammen loderte. Der Brand war so plötzlich wie jede andere Feuersbrunst ausgebrochen, und das Wunderbarste dabei war, daß des Müllers Töchterlein, die niedliche Babette, keine Ahnung davon hatte; sie und Rudi hatten in ihrem Leben auch nicht zwei Worte miteinander gesprochen.

Der Müller war reich, der Reichtum machte, daß Babette zu hoch für viele Wünsche stand. Aber nichts steht so hoch, dachte Rudi, daß man es nicht erreichen kann. Man muß klettern, und man fällt nicht, wenn man es sich nicht einbildet. Die Lehre hatte er von Hause mitgebracht.

Nun traf es sich, daß Rudi Geschäfte in Bex hatte. Es war eine nicht unbedeutende Reise dorthin, denn die einzige Eisenbahn dorthin war damals noch nicht gebaut. Vom Rhonegletscher aus, den Fuß des Simplon entlang, dehnt sich zwischen vielen und abwechselnden Bergen das breite Walliser Tal mit seinem mächtigen Flusse, der Rhone, aus, die häufig anschwillt und alles verheerend Felder und Wege überschwemmt. Zwischen den Städten Sion und St. Maurice bildet das Tal eine Krümmung, biegt sich wie ein Ellbogen und wird unterhalb Maurice so schmal, daß es nur für das Flußbett und die schmale Forststraße Raum darbietet. Ein alter Turm steht gleichsam als Schildwache des Kanton Wallis, der hier endet, auf dem Berge und schaut über die steinerne Brücke nach dem Zollhause auf der anderen Seite hinüber. Dort beginnt der Kanton Waadt, und die nächstgelegene Stadt darin ist Bex. Hier drüben nimmt alles bei jedem Schritte vorwärts an Fülle und Fruchtbarkeit zu, man wandelt in einem Garten von Walnuß- und Kastanienbäumen. Hier und da tauchen Zypressen und Granatbäume auf; es herrscht hier eine südliche Wärme, als wäre man schon nach Italien hinabgekommen.

Rudi langte in Bex an, verrichtete sein Geschäft, sah sich um, aber kein Müllerbursche, geschweige denn Babette ließ sich blicken. Es war nicht, wie es sein sollte.

Es wurde Abend, die Luft war mit dem Dufte des wilden Thymian und der blühenden Linden geschwängert. Es lag gleichsam ein schimmernder, luftblauer Schleier um die waldgrünen Berge. Eine tiefe Stille herrschte überall, nicht die des Schlafes, nicht die des Todes, nein, es war, als hielte die Natur ihre Atemzüge an, als hätte sie diese feierliche Ruhe angenommen, damit ihr Bild auf dem blauen Himmelsgrunde photografiert werden könnte. Hier und da standen das ganze Feld entlang zwischen den Bäumen hohe Stangen, die den Telegraphendraht hielten, der durch das stille Tal geführt war. Gegen eine lehnte sich ein Gegenstand, so unbeweglich, daß man hätte glauben können, es wäre ein verdorrter Baumstamm; aber es war Rudi, der hier ebenso stillstand wie seine ganze Umgebung in diesem Augenblicke. Er schlief nicht, war noch weniger tot, aber wie durch den Telegraphendraht oft große Weltbegebenheiten, Lebensmomente von entscheidender Bedeutung für den einzelnen hindurchfliegen, ohne daß der Draht durch ein Zittern oder durch einen Ton darauf hindeutet, so zogen dort durch Rudi Gedanken, mächtige, überwältigende, das Glück seines Lebens, von nun an seine einzigen, seine beständigen Gedanken. Seine Augen waren auf den Punkt zwischen dem Laube gerichtet, auf ein Licht in der Wohnstube des Müllers, wo Babette wohnte. Bei der unerschütterlichen Ruhe, mit der Rudi dastand, hätte man annehmen können, er zielte nach einer Gemse, aber er selbst glich in diesem Augenblicke einer Gemse, die minutenlang wie aus dem Felden herausgemeißelt dastehen kann, und plötzlich, wenn ein Stein rollt, einen Satz macht und von dannen jagt. Und das tat Rudi gerade auch. Ein Gedanke rollte durch seine Seele.

"Niemals verzagen!" rief er. "Besuch in der Mühle! Guten Abend zum Müller, Guten Tag zu Babette! Man fällt nicht, wenn man es sich nicht einbildet. Soll ich Babettes Mann werden, so muß sie mich doch einmal sehen."

Und Rudi lachte, war guten Muts und ging nach der Mühle; er wußte, was er wollte, er wollte Babette haben.

Schäumend brauste der Fluß mit seinem weißlichgelben Wasser, Linden und Weiden neigten sich tief über den rauschenden Strom. Schnell schritt Rudi auf das Haus zu, aber wie es in dem alten Kinderliede heißt:

"im Müllerhaus
War keine Seele heut daheim,
Nur eine Katze guckt heraus!"

Die Stubenkatze stand vorn auf der Treppe, machte einen krummen Buckel und sagte: "Miau!" aber Rudi hatte jetzt keinen Sinn für diese Sprache. Er klopfte an; niemand hörte, niemand öffnete. "Miau!" sagte die Katze. Wäre Rudi noch klein gewesen, so hätte er die Sprache der Tiere verstanden und gehört, daß die Katze sagte: "Es ist niemand zu Hause." Nun muß er erst zur Mühle hinüber und sich dort erkundigen. Da erhielt er Bescheid. Der Hausherr befand sich auf Reisen, weit fort in der Stadt Interlaken, "inter lacus, zwischen den Seen", wie es ihnen der Schullehrer, Anettes Vater, beim Unterricht erklärt hatte. So weit war der Müller verreist und hatte Babette mitgenommen. Ein großes Schützenfest wurde daselbst gefeiert, morgen sollte es beginnen und dauerte acht Tage lang. Die Schweizer aus allen deutschen Kantonen strömten dort zusammen.

Armer Rudi, konnte man sagen, es war nicht die glücklichste Zeit, daß er nach Bex kam, er konnte nur getrost wieder umkehren; und das tat er und schlug den Weg über St. Maurice und Sion nach seinem eigenen Tale, seinen eigenen Bergen ein. Doch verzagt war er deshalb nicht. Als die Sonne am nächsten Morgen aufging, war seine gute Laune längst wieder zurückgekehrt, lange verließ sie ihn nie.

"Babette ist in Interlaken, viele Tagereisen von hier entfernt", sprach er bei sich selbst. "Es ist ein weiter Weg dorthin, will man die große Landstraße benutzen, aber er ist lange nicht so weit, wenn man über die Berge klettert, und das ist gerade ein Weg für einen Gemsenjäger. Den Weg bin ich schon früher gegangen, dort drüben ist ja meine Heimat, wo ich als Kind beim Großvater lebte. Außerdem ist Schützenfest in Interlaken! Dabei will ich der erste sein; und das will ich auch bei Babette sein, wenn ich erst ihre Bekanntschaft gemacht habe."

Mit seinem leichten Ränzel, mit dem Sonntagsstaat darin, Gewehr und Jagdtasche über der Schulter, stieg Rudi den Berg hinauf, ging den kurzen Weg, der doch ziemlich lang war. Aber das Schützenfest hatte ja heute erst seinen Anfang genommen und dauert über eine Woche. Die ganze Zeit über blieben, hatte man gesagt der Müller und Babette bei ihren Verwandten in Interlaken. Rudi ging über die Gemmi und wollte bei Grindelwald hinabsteigen.

Munter und fröhlich schritt er vorwärts, in die frische, die stärkende Bergesluft hinein. Das Tal sank tiefer, der Gesichtskreis wurde weiter; hier ein Schneegipfel, dort ein Schneegipfel und bald die weithin leuchtende, weiße Alpenkette. Rudi kannte jeden schneebedeckten Berg. Er schritt geradewegs auf das Schreckhorn zu, das seinen weißgepuderten Steinfinger hoch in die blaue Luft streckte.

Endlich hatte er den Höherücken überschritten. Die Weideplätze neigten sich abwärts nach dem Tale seiner Heimat. Die Luft war leicht, sein Herz war leicht. Berg und Tal waren voller Blumen und Grün, sein Herz voller Jugendgedanken: man wird nie alt, man kann nie sterben; leben, herrschen, genießen! Frei wie ein Vogel, leicht wie ein Vogel war er. Und die Schwalben flogen vorüber und sangen wie in seiner Kindheit: "Wir und ihr, ihr und wir!" Alles war Flug und Freude!

Unten lag die samtgrüne Wiese, mit braunen Holzhäusern gleichsam bestreut; die Lütschine schlängelte sich murmelnd und plätschernd hindurch. Er sah den Gletscher mit seinen glasgrünen Rändern, seinen tiefen Spalten; den obersten und untersten Gletscher erblickte er. Die Glocken klangen von der Kirche auf der Höhe zu ihm hinüber, als wollten sie zu seinem Willkommen in der Heimat läuten. Sein Herz klopfte stärker, erweiterte sich, so daß Babette einen Augenblick daraus verschwand, so groß wurde sein Herz, so voller Erinnerungen.

Er ging wieder denselben Weg entlang, auf dem er als kleiner Bursche mit den anderen Kindern am Grabenrande gestanden und ausgeschnitzte Holzhäuser verkauft hatte. Dort oben hinter der Tanne lag noch Großvaters Haus, Fremde wohnten jetzt darin. Kinder kamen ihm auf dem Wege entgegengelaufen, sie wollten ihren kleinen Handel betreiben; das eine reicht ihm eine Alpenrose, Rudi nahm sie als gutes Zeichen an und dachte an Babette. Bald hatte er die Brücke im Tale erreicht, wo sich die beiden Lütschinen vereinigen. Die Laubbäume nahmen zu, die Walnußbäume gaben Schatten. Jetzt sah er die wehende Flagge, das weiße Kreuz im roten Grunde, wie der Schweizer und der Däne sie führt. Vor ihm lag Interlaken.

Nach Rudis Gedanken war es wirklich eine Prachtstadt, wie keine andere. Eine Schweizer Stadt im Sonntagsstaate. Sie war nicht, wie die anderen kleinen Städte, eine Masse schwerfälliger, steinerner Häuser, plump, fremd und vornehm; nein, hier sah es so aus, als ob sich die hölzerne Häuser oben von den Bergen unten in das grüne Tal an den klaren pfeilschnellen Fluß verlaufen und sich, hier ein wenig auswärts, dort ein wenig einwärts, in Reihe gestellt hätten, um eine Straße zu bilden. Die prächtigste von allen Straßen, ja, die war freilich ordentlich in die Höhe geschossen, seitdem Rudi als Kind zum letzten Male hier gewesen war. Es kam ihm vor, als ob alle die niedlichen hölzernen Häuser, welche Großvater ausgeschnitzt hatte und mit denen das Spind zu Hause angefüllt war, sich hier aufgestellt hätten und ebenso kräftig wie die alten, edlen Kastanienbäume aufgewachsen wären. Jedes Haus hieß ein Hotel, Fenster und Altane zeichneten sich durch treffliche Holzarbeiten aus, die durch ihre Schönheit und Zierlichkeit dem Ganzen einen eigentümlichen Reiz verliehen, und vor jedem Hause dehnte sich ein reizender Blumengarten bis an die breite, asphaltierte Landstraße aus. Längs der Straße standen nur auf der einen Seite die Häuser, sie würden sonst die frische, grüne Wiese unmittelbar davor versteckt haben, auf welcher die Kühe mit ihren Glocken gingen, die gerade wie auf den hohen Alpenweiden klangen. Die Wiese war von hohen Bergen eingeschlossen, die gerade in der Mitte gleichsam zur Seite traten, so daß man die Jungfrau, diesen leuchtenden, schneebedeckten Berg, recht überschauen konnte, den schönsten aller Schweizerberge.

Was für eine Menge geputzter Herren und Damen aus fremden Ländern, was für ein Gewimmel von Landleuten aus den verschiedenen Kantonen! Die Schützen trugen ihre Schießnummer am Hute. Überall war Musik und Gesang, ließen sich Leierkasten und Blasinstrumente, Rufen und Lärmen vernehmen. Häuser und Brücken waren mit Versen und Emblemen geschmückt. Flaggen und Fahnen wehten, die Büchsen knallten Schuß auf Schuß. Das war die schönste Musik in Rudis Ohren, er vergaß unter all diesen Babette völlig, um derentwillen er doch allein hergekommen war.

Die Schützen drängten sich zum Scheibenschießen, Rudi war bald unter ihnen, und zwar der Geschickteste, der Glücklichste. Immer traf er mitten in das Schwarze.

"Wer ist nur der fremde, blutjunge Jäger?" fragte man. "Er spricht die französische Sprache, wie sie im Kanton Wallis geredet wird. Er drückt sich aber auch in unserer deutschen Sprache ganz verständlich aus!" sagten einige. "Als Kind soll er hier in der Gegend von Grindelwald gelebt haben!" wußte jemand zu berichten.

Es war Leben in dem Burschen, seine Augen leuchteten, sein Blick und Arm waren sicher. Glück verleiht Mut, und Mut hatte Rudi ja immer. Bald hatte er hier schon einen großen Kreis von Freunden um sich, man ehrte ihn; man huldigte ihm; Babette war ihm fast ganz aus den Gedanken entschwunden. Da schlug ihm plötzlich eine schwere Hand auf die Schulter, und eine grobe Stimme redete ihn in französischer Sprache an: "Ihr seid aus dem Kanton Wallis?"

Rudi wandte sich um und sah ein rotes, vergnügtes Gesicht, eine dicke Gestalt; es war der reiche Müller aus Bex. Er verbarg mit seinem breiten Körper die feine niedliche Babette, die jedoch bald mit ihren strahlenden, dunklen Augen hervorguckte. Für den reichen Müller diente zum Beweise, daß er ein Jäger seines Kantons war, lediglich der Umstand, daß er die besten Schüsse abgab und der Gefeiertste war. Rudi war wahrlich ein Glückskind; wonach er hierher gewandert war, was er aber an Ort und Stelle beinahe vergessen hatte, das suchte ihn auf.

Wo sich Landsleute fern von der Heimat treffen, da kennen sie einander, da reden sie einander an. Rudi war beim Schützenfeste durch seine Schüsse offenbar der Erste, geradeso wie der Müller daheim in Bex durch sein Geld und seine gute Mühle war, und deshalb drückten die beiden Männer einander die Hände, was sie nie zuvor getan hatten. Auch Babette reichte Rudi treuherzig die Hand, und er drückte sie ihr wieder und sah sie an, daß sie ganz rot dabei wurde.

Der Müller erzählte von dem langen Wege, den sie zurückgelegt, von den vielen Städten, die sie gesehen hatten. Es war eine ordentliche Reise gewesen; sie hatten das Dampfschiff benutzt, waren mit der Eisenbahn und mit der Post gefahren.

"Ich bin den kürzeren Weg gegangen", sagte Rudi. "Ich bin über die Berge gegangen. Kein Weg ist so hoch, daß man ihn nicht passieren kann!"

"Aber auch den Hals dabei brechen", sagte der Müller. "Und Ihr seht mir gerade danach aus, daß Ihr den Hals einmal brechen müßt, so verwegen wie Ihr seid!"

"Man fällt nicht, wenn man es sich nicht selbst einbildet!" sagte Rudi.

Des Müllers Verwandte in Interlaken, bei denen der Müller und Babette auf Besuch waren, baten Rudi, bisweilen bei ihnen vorzusprechen, er wäre ja mit ihnen aus demselben Kanton. Das war für unseres Rudi Pläne ein gar günstiges Anerbieten, das Glück war mit ihm, wie es immer mit denjenigen ist, der sich auf sich selbst verläßt und dessen eingedenk bleibt: "Gott gibt uns zwar die Nüsse, aber er knackt sie uns nicht auf."

Rudi saß, als ob er mit zur Familie gehörte, bei den Verwandten des Müllers; ein Hoch wurde auf den besten Schützen ausgebracht, und Babette stieß mit an, und Rudi bedankte sich für die ihm erzeigte Ehre.

Gegen Abend durchschritten sie alle die schöne Straße längs den prächtigen Hotels unter den alten Walnußbäumen, und es bewegte sich dort eine solche Volksmenge, es war ein so großes Gedränge, daß Rudi Babette den Arm bieten mußte. Er wäre so froh darüber, daß er Leute aus Waadt getroffen hätte, sagte er. Waadt und Wallis wären gute Nachbarkantone. Er sprach seine Freude so aufrichtig und ungeheuchelt aus, daß es Babette durchaus notwendig erschien, ihm dafür die Hand zu drücken. Sie gingen fast wie alte Bekannte nebeneinander, und drollig war sie, das kleine, allerliebste Menschenkind. Es stand ihr in Rudis Augen so niedlich, auf das Lächerliche und Übertriebene in der Kleidung und den Moden aufmerksam zu machen, welche die fremden Damen zur Schau trugen. Es geschah übrigens durchaus nicht , um sich über sie lustig zu machen, denn es konnten sehr rechtschaffene, ja gute und liebenswürdige Menschen sein, wie Babette sehr wohl wußte, hatte sie doch eine solche vornehme englische Dame zur Patin. Vor achtzehn Jahren befand sie sich, als Babette getauft wurde, gerade in Bex; sie hatte Babette die kostbare Nadel geschenkt, die sie an der Brust trug. Zweimal hätte ihre Patin bereits geschrieben, und in diesem Jahr hätte sie mit ihr und ihren Töchtern, alten Jungfern an die Dreißig heran, wie sich Babette ausdrückte, sie selbst war ja nur achtzehn, hier in Interlaken zusammentreffen sollen.

Der süße kleine Mund stand nicht einen Augenblick still, und alles, was Babette sagte, klang Rudi wie Dinge von der größten Wichtigkeit, und er erzählte wieder, was er zu erzählen hatte, erzählte, wie oft er in Bex gewesen wäre, wie gut er die Mühle kenne, wie oft er Babette gesehen, sie ihn dagegen wahrscheinlich nie bemerkt hätte. Als er nun das letztemal zur Mühle gekommen, und zwar mit allerlei Gedanken, die er ihr nicht sagen könnte, wäre sie und ihr Vater fortgewesen, weit fort, aber doch nicht so weit, daß man nicht hätte die Mauer überspringen können, die den Weg weit machte.

Ja, das sagte er, und er sagte so vieles. Er sagte, wie lieb er sie hätte, und daß er nur um ihretwillen und nicht wegen des Schützenfestes gekommen wäre.

Babette wurde ganz still; es war fast zu viel, was er ihr zu tragen anvertraute.

Und während sie gingen, sank die Sonne hinter die hohe Felsenwand, die Jungfrau erhob sich in Pracht und Glanz, umgeben vom waldgrünen Kranze der nahen Berge. Die vielen Menschen blieben stehen und schauten dorthin; auch Rudi und Babette weideten ihre Augen an der erhabenen Pracht.

"Nirgends ist es schöner als hier!" sagte Babette

"Nirgends!" wiederholte Rudi und sah Babette dabei an.

"Morgen muß ich fort!" fügte er kurz darauf hinzu.

"Besuche uns in Bex!" flüsterte Babette. "Das wird meinen Vater erfreuen!"

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