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Die Eisjungfrau

Hans Christian Andersen

XIII. Im Hause des Müllers

"Die Menschen machen doch schrecklichen Unsinn", sagte die Stubenkatze zur Küchenkatze. "Zwischen Babette und Rudi ist schon wieder alles aus. Sie weint und er denkt wahrscheinlich gar nicht mehr an sie."

"Das gefällt mir nicht!" erwiderte die Küchenkatze, "aber deswegen will ich mich grämen! Babette kann ja die Braut des Rotbärtigen werden! Er ist übrigens auch nicht hier gewesen, seitdem er auf das Dach klettern wollte."

Böse Mächte treiben ihr Spiel, in und außer uns. Rudi hatte es empfunden und darüber nachgedacht. Was war doch um ihn und in ihm vorgegangen, dort oben auf dem Berge? Waren es Visionen oder ein Fiebertraum? Nie hatte er früher etwas von Fieber oder Krankheit gewußt. Während er Babette verurteilte, hatte er einen Einblick in sich selbst getan. Er dachte an die wilde Jagd in seinem Herzen, an den heißen Föhn, der neulich darin losbrach. Konnte er Babette alles, jeden Gedanken beichten, der bei ihm in der Stunde der Versuchung zur Tat werden konnte? Ihren Ring hatte er verloren, und gerade durch diesen Verlust hatte sie ihn wiedergewonnen. Konnte sie ihm beichten? Es war, als sollte ihm das Herz brechen, wenn er an sie dachte. So viele Erinnerungen wurden in ihm wach. Er sah sie vor sich, wie sie leibte und lebte, lachend, ein mutwilliges Kind. Manch zärtliches Liebeswort, das sie aus der Fülle ihres Herzens geredet hatte, flog wie ein Sonnenblick durch seine Brust, und bald leuchtete Babette nur in hellem Sonnenschein vor ihm.

Sie mußte ihm beichten und sollte es.

Er kam zur Mühle und es kam zur Beichte. Sie begann mit einem Kuß und endete damit, daß Rudi der eigentliche Sünder war. Sein großer Fehler bestand darin, an Babettes Treue zweifeln zu können. Es wäre geradezu abscheulich von ihm! Solches Mißtrauen, solche Heftigkeit könnte nur sie beide ins Unglück stürzen. Ja, ja, ganz gewiß, und deshalb hielt ihm Babette eine kleine Predigt; es machte ihr selbst Spaß und kleidete sie so reizend. In einem Punkte hätte Rudi jedoch recht, der Vetter der Frau Patin wäre ein Schwatzmaul! Sie würde das Buch, das er ihr geschenkt hätte, verbrennen, und nicht das geringste im Besitze halten, was sie an ihn erinnern könnte.

"Nun ist es überstanden!" sagte die Stubenkatze. "Rudi ist wieder hier; sie haben sich miteinander verständigt und versichert, es sei das größte Glück!"

"Heute nacht", erwiderte die Küchenkatze, "hörte ich die Ratten sagen, das größte Glück bestehe darin, Talglichter zu fressen und eine gehörige Portion verdorbenen Speck vor sich zu haben. Wem soll man nun glauben, den Ratten oder den Liebesleuten?"

"Keinem von ihnen", versetzte die Stubenkatze. "Das ist immer das Sicherste."

Das größte Glück für Rudi und Babette war gerade in seinem Aufgange begriffen, den schönsten Tag, wie er genannt wird, den Hochzeitstag, hatten sie zu erwarten.

Aber nicht in der Kirche zu Bex, nicht in dem Hause des Müllers sollte die Trauung stattfinden. Die Frau Patin wünschte, daß die Hochzeit bei ihr gefeiert würde und die Trauung in der hübschen kleinen Kirche zu Montreux geschähe. Der Müller bestand darauf, daß man auf dieses Verlangen einginge. Er allein wußte, was die Frau Patin für die Neuvermählten bestimmt hatte. Sie sollten ein Brautgeschenk erhalten, das wohl diese kleine Nachgiebigkeit wert war. Der Tag war festgesetzt. Schon den Abend vorher beabsichtigten sie, nach Villeneuve zu reisen, um mit dem Schiffe früh am nächsten Morgen nach Montreux hinüberzufahren, damit die Töchter der Frau Patin die Braut schmücken könnten.

"Es wird wohl am nächsten Tage hier im Hause eine Nachfeier geben", sagte die Stubenkatze. "Sonst ist das Ganze auch nicht ein einziges Miau wert."

"Hier gibt es natürlich ein Fest", sagte die Küchenkatze. "Enten sind geschlachtet, Tauben gerupft und eine ganze Gemse hängt an der Wand. Mir wässert ordentlich der Mund, wenn ich sie mir betrachte! Morgen begeben sie sich schon auf die Reise."

Ja morgen! Diesen Abend saßen Rudi und Babette zum letztenmal als Verlobte in der Mühle.

Draußen war Alpenglühen, die Abendglocke klang, die Töchter der Sonnenstrahlen sangen: "Das Beste geschehe!"

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