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Der Garten der Qualen

Octave Mirbeau

Kapitel II.3

Das Bagno ist am Ufer des Flußes erbaut. Seine im Viereck angelegten Mauern umschließen eine Fläche von über hunderttausend Quadradmetern. Kein einziges Fenster ist vorhanden, überhaupt keine Öffnung außer dem riesigen Thor, das von rothen Drachen gekrönt und durch schwere Eisenbarren geschlossen ist. Die Thürme der Wächter, viereckige Thürme, die ein überhängendes Dach mit aufwärts gebogenen Schnäbeln deckt, bezeichnen die vier Ecken des finstern Gemäuers. Andere, kleinere Thürme erheben sich in regelmäßigen Abständen. Bei Nacht werden alle diese Thürme gleich Leuchtthürmen erhellt und werfen rings um das Bagno auf das freie Land und den Fluß verrätherisches Licht. Eine der Mauern taucht aus dem schwarzen, stinkenden und tiefen Gewässer empor, ihre soliden Grundsteine sind mit klebrigen Algen bedeckt. Eine niedrige Thür ist durch eine Zugbrücke mit dem Pfahlbau verbunden, der sich bis zur Mitte des Flußes ausdehnt und an dessen Holzpfeilern zahlreiche Dienstboote und Sampangs angekettet liegen. Zwei Hellebardenträger halten, die Lanze in der Hand, an dem Thore Wacht. Rechts von dem Pfahlwerk liegt unbeweglich ein kleines Panzerschiff, in der Art der französischen Fischeraufseherfahrzeuge, die Rachen seiner drei Kanonen auf das Bagno gerichtet. Links verdecken, soweit das Auge dem Flusse folgen kann, fünfundzwanzig bis dreißig Reihen von Schiffen das andere Ufer durch ein Gemenge vielfarbener Balken, buntbemalter Mastbäume, von Takelwerk und grauen Segeln. Und von Zeit zu Zeit sieht man diese massiven Fahrzeuge vorübergleiten, deren Räder von Unglücklichen, die in Käfigen eingesperrt sind, mühsam mit den trockenen, nervigen Armen bewegt werden.

Hinter dem Bagno, bis in weite, weite Ferne, bis zu dem Gebirge, das den Gesichtskreis mit einer dunklen Linie abschließt, dehnt sich felsiges Gelände, in kurzen Terrainwellen, die hier schwarz wie Ruß, dort von der Farbe getrockneten Blutes schienen, auf denen nur magere Ahornstämme gedeihen, bläuliche Disteln und verkrüppelte Kirschbäume, die niemals blühen. Unendliche Verzweiflung! Niederdrückende Trauer! ... Während acht Monate im Jahr bleibt der Himmel blau, es ist dies ein rothunterwaschenes Blau, in dem der Widerschein einer ewigen Feuersbrunst lebt, ein unbarmherziges Blau, in das nie die Laune einer Wolke zu dringen wagt. Die Sonne versengt die Erde, röstet die Felsen und schmelzt die Kiesel zu einer Glasmasse zusammen, die unter den Füßen gleich Scherben klirrend zerbricht und Flammen aufzucken läßt. Kein Vogel wagt sich in das Luftbereich dieses Schmelzofens. Es leben da nur unsichtbare Organismen, Bazillenschwärme, die gegen Abend, wenn dumpfe Dampfwolken zugleich mit dem Gesang der Matrosen aus dem erschöpften Fluße heraufdringen, deutlich die Schattengebilde des Fiebers, der Pest und des Todes annehmen!

Welch' ungeheurer Unterschied zwischen all' dem und dem andern Ufer, wo der fette, reiche Boden mit Blumenbeeten und Obstgärten bedeckt, riesige Bäume und wundervolle Blumen hervorbringt!

Beim Verlassen der Brücke hatten wir glücklicher Weise eine Sänfte finden können, in der wir quer durch die glühende Ebene bis nahe zum Bagno, dessen Thore noch immer geschlossen waren, befördert wurden. Eine Abtheilung von Polizeisoldaten, mit Lanzen, an denen gelbe Bänder befestigt waren und riesigen Schilden, hinter denen sie fast verschwanden, bewaffnet, hielt die ungeduldige und sehr zahlreiche Menge der Neugierigen zurück. Von Augenblick zu Augenblick vergrößerte sich der Andrang noch mehr. Es waren Zelte aufgeschlagen worden, in denen man Thee trank und hübsche Bonbons, in feine duftende Pasten gerollte Rosen- und Akazienblätter, die dann mit Zuckermasse übergossen waren, knapperte. In anderen Zelten spielten Musikanten auf der Flöte und rezitierten Dichter ihre Werke, während der Punka, der die glühende Luft bewegte, einen Hauch von Frische über die Gesichter streichen ließ. Und herumziehende Händler verkauften Bilder, alte Berichte von Verbrechen, Darstellungen von Martern und Qualen, Kupferstiche und Elfenbeinschnitzereien von fremdartiger Unzüchtigkeit. Clara kaufte einige der letzteren und sagte zu mir:

- Sieh' nur, wie viel civilisierter als wir die Chinesen, die man für Barbaren hält, ganz im Gegentheil sind, auf wie viel fortgeschrittenerer Stufe in der Logik des Lebens und in der Harmonie der Natur sie stehen! ... Sie halten den Liebesakt keineswegs für eine Schande, die man verbergen muß ... Sie preisen ihn dagegen und besingen jede Regung und jede Liebkosung ... ganz gleich den Alten, für die doch auch das Geschlecht weit entfernt davon, ein schändliches Ding, ein Bild der Unreinheit zu sein, eine Gottheit vorstellte! ... Bedenke auch einmal, wie die ganze Kunst des Occidents dadurch beeinträchtigt wird, daß man ihr die prächtigen Ausdrucksformen der Liebe darzustellen verboten hat. Bei uns zu Hause ist die Erotik arm, dumm und eisig ... sie stellt sich stets mit den gekrümmten Gebärden der Sünde ein, während sie hier ihre ganze lebensstrotzende Größe behält, all' ihre wiehernde Poesie, all' das überwältigende Lustzucken der Natur ...

Aber Du, Du bist ja nur ein europäischer Liebhaber, ... eine arme kleine, schüchterne und frostige Seele, in die die katholische Religion thörichter Weise Furcht vor der Natur und Haß gegen die Liebe gepflanzt hat ... Sie hat in Dir den Sinn des Lebens gefälscht, verderbt ...

- Liebe Clara, wandte ich ein ..., ist es denn natürlich, daß Sie die Wollust in der Fäulniß suchen und die Heerde Ihrer Begierden sich an dem furchtbaren Schauspiel des Leidens und des Todes aufregen lassen? ... Ist dies nicht im Gegentheil eine Entartung der Natur, deren Kult Sie heranziehen, um dadurch vielleicht zu entschuldigen, was Ihre Sinnlichkeit an Verbrecherischem und Furchtbarem in sich trägt? ...

- Nicht doch! entgegnete Clara lebhaft ... da doch Liebe und Tod ein und dasselbe ist! ... Und da die Fäulnis die ewige Auferstehung des Lebens vorstellt ... Bedenken Sie ...

Sie brach unvermittelt ab und fragte mich:

- Aber weshalb sagst Du so etwas zu mir? ... Wie komisch Du bist! ...

Und mit reizendem Schmollen fügte sie hinzu:

- Wie langweilig das ist, daß Du nichts begreifst! ... Wieso fühlst Du das denn nicht? ... Wieso hast Du noch nicht gefühlt, daß gerade, ich sage nicht einmal in der Liebe, sondern in der Wollust, die die Vollendung der Liebe vorstellt, alle geistigen Fähigkeiten des Menschen sich entschleiern und schärfen ... daß Du nur durch die Wollust eine völlige Entfaltung Deiner Persönlichkeit erreichst? ... Sieh' einmal ... hast Du im Liebesakt denn nie zum Beispiel daran gedacht, ein schönes Verbrechen zu begehen? ... Das heißt Dein Ich über alle sozialen Vorurtheile und alle Gesetze, kurz über alles zu erheben? ... Und wenn Du daran nicht gedacht hast, weshalb fröhnst Du denn dann überhaupt der Liebe? ...

- Ich habe nicht die Kraft, zu widerlegen, stammelte ich ... Und mir ist, als ob ich in einem schweren Traum wandelte ... Die Sonne ... diese Menschenmenge ... dieser Geruch ... und Deine Augen ... Ach, Deine Augen voll von Qualen und Wollust! ... Und Deine Stimme ... und Dein Verbrechen ... All' das entsetzt mich ... all' das macht mich wahnsinnig! ...

Clara lachte kurz und spöttisch auf:

- Armer Liebling! ... seufzte sie komisch ... Heute Abend, wenn Du in meinen Armen ruhst, wirst Du nicht so reden ... Und, wie ich Dich lieben werde! ...

Die Menge erhitzte sich immer mehr. Bonzen, die unter Sonnenschirmen hockten, breiteten ihre langen rothen Kleider um sich aus, gleich Blutpfützen, sie schlugen auf Gongs mit rasenden Schlägen und beschimpften in gröbster Weise die Vorübergehenden, die, um ihre Flüche und Verwünschungen zu beschwichtigen, fromm in metallene Kufen reichlich Geldstücke fallen ließen.

Clara führte mich unter ein Zelt, das ganz und gar mit Pfirsichblüten bestickt war und nöthigte mich, an ihrer Seite auf einem Stoß von Kissen Platz zu nehmen. Dann sagte sie zu mir, indem sie mir die Stirn mit ihrer electrisch zuckenden Hand, dieser Spenderin von Vergessenheit und Rausch, streichelte:

- Du lieber Gott! ... Wie lange das dauert, Liebling! ... Jede Woche ist's die gleiche Geschichte ... Das Thor wird nie rechtzeitig geöffnet ... Weshalb sprichst Du nicht mit mir? ... Flöße ich Dir Angst ein? ... Freut es Dich, daß Du mitgekommen bist? ... Bist Du zufrieden, wenn ich Dich streichle, Du liebe, angebetete, kleine Canaille? ... O, Deine schönen, müden Augen! ... Das macht das Fieber ... und ich auch, sag'? ... Sag', ich bins? ... Willst Du Thee trinken? ... Willst Du noch eine Hamamelispastille? ...

- Ich wollte, ich wäre weit fort von hier! ... Ich möchte schlafen! ...

- Schlafen! ... Wie merkwürdig Du bist! ... O, Du wirst ja gleich sehen, wie schön es ist! ... wie schrecklich es ist! ... Und welche außergewöhnlichen ... welche ungeahnten ... welche wundervollen Begierden das einem in den Leib dringen läßt! ... Wir werden über den Fluß, in unserem Sampang zurückkehren ... Und die Nacht in einem Blumenschiff verbringen ... Willst Du, ja? ...

Sie gab mir ein paar leichte Schläge mit ihrem Fächer auf die Hände:

- Aber Du hörst ja garnicht zu! ... Weshalb hörst Du mir nicht zu? ... Du bist blaß und Du bist traurig ... Und Du hörst wahrhaftig nicht, was ich sage ...

Sie schmiegte sich an mich, ganz eng, schmeichelnd und beweglich:

- Du hörst nicht auf mich, Du Bösewicht, begann sie wieder ... Und Du liebkost mich nicht einmal! ... So streichle mich doch, Liebling! ... Fühle, wie kalt und hart meine Brüste sind ...

Und mit dumpfer Stimme, wollüstig und grausam sprach sie, indem ihr Blick grünliche Flammen auf mich zückte:

- Höre! ... Vor acht Tagen ... habe ich ein ungewöhnliches Schauspiel gesehen ... O, theurer Liebling, ich sah, wie ein Mann gepeitscht wurde, weil er einen Fisch gestohlen hatte ... Der Richter hatte einfach Folgendes erklärt: "Man braucht nicht immer annehmen, daß ein Mensch, der einen Fisch in der Hand trägt, ein Fischer ist!" Und er hatte den Mann verurtheilt, mit eisernen Ruten zu Tode gepeitscht zu werden ... Um einen Fisch, Liebling! ... Das ging im Garten der Qualen vor sich ... Stell' Dir vor, der Mensch kniete am Boden und sein Kopf ruhte auf einer Art von Block ... einem Block, der schwarz von geronnenem Blute war ... Der Rücken und die Lenden des Mannes waren entblößt ... Rücken und Lenden wie von altem Golde! ... Ich kam gerade in dem Augen blicke dazu, als ein Soldat den sehr langen Kopf des Deliquenten an einen Ring, der in eine Steinplatte am Boden eingelassen war, band ... Neben dem Opfer ließ ein anderer Soldat an einem Schmiedefeuer eine kleine ... eine winzige Eisengerte rothglühend werden ... Und dann ... Hör' mich gut an! ... Hörst Du? ... Als die Gerte rothglühend war, peitschte der Soldat den Mann abwechselnd auf die Arme und auf die Lenden ... Die Gerte zischte: Ksch! ... und drang tief in die Muskeln ein, die knisterten und aus denen ein röthliches Dampfwölkchen aufstieg ... Begreifst Du? ... Dann ließ der Soldat die Gerte in dem Fleische, das aufschwoll und sich wieder schloß, abkühlen ... und als sie kalt war, riß er heftig mit einem einzigen Griff sie wieder heraus ... zugleich mit kleinen, blutenden Fleischfetzen ... Und der Mann stieß furchtbare Schmerzensschreie aus ... Dann begann der Soldat von neuem ... Er begann fünfzehn Mal von neuem! ... Und auch mir, theurer, geliebter Liebling, war, als ob die Gerte bei jedem Hieb mir in die Lenden dränge ... Das war gräßlich und sehr angenehm!

Als ich schwieg, wiederholte sie:

- Das war gräßlich und sehr angenehm ... Und wenn Du wüßtest, wie schön dieser Mann war ... wie stark er war! ... Muskel gleich denen von Statuen ... Küsse mich, theurer Liebling ... So küsse mich doch nur!

Claras Augen waren verdreht. Zwischen den halbgeschlossenen Lidern sah ich nur noch das Weiße ihrer Augen ... Sie sagte noch:

- Er rührte sich nicht ... Auf seinem Rücken nur zeigten sich kleine Wellen ... O, Deine Lippen!

Nach einigen Augenblicken des Schweigens begann sie wieder:

- Vergangenes Jahr habe ich mit Annie einen noch viel erstaunlicheren Vorgang gesehen ... Ich sah einen Menschen, der seine Mutter geschändet und ihr sodann mit einem Messer den Bauch aufgeschlitzt hatte. Übbrigens hatte man es wahrscheinlich mit einem Wahnsinnigen zu thun ... Er wurde zur Qual der Liebkosung verurtheilt ... Ja, mein Liebling ... Ist das nicht bewunderungswürdig? ... Man erlaubt den Fremden nicht dieser Qual beizuwohnen, die übrigens heutzutage eine große Seltenheit ist ... Wir hatten den Wächter mit Geld bestochen, er verbarg uns hinter einer spanischen Wand ... So sahen Annie und ich alles ... Der Wahnsinnige - er sah gar nicht wahnsinnig aus - lag auf einem sehr niedrigen Tisch ausgestreckt, den Leib und die Glieder mit festen Stricken gebunden ... den Mund geknebelt ... so daß er weder auch nur die kleinste Bewegung machen, noch einen Schrei ausstoßen konnte ... Ein Weib, das weder schön noch jung schien, mit ernstem Gesicht, ganz in Schwarz gekleidet, den nackten Arm mit einem breiten Goldring geschmückt, kniete neben dem Wahnsinnigen nieder ... Sie ergriff sein Glied ... und begann ... O, Liebling! ... Liebling! ... Wenn Du das gesehen hättest! ... Es dauerte vier Stunden ... bedenke, vier Stunden! ... Vier Stunden furchtbarer und kunstvoller Liebkosungen, während derer die Handbewegung des Weibes sich keine Minute verlangsamte, während derer ihr Gesicht kalt und düster blieb! ... Der Delinquent verschied in einem Blutstrahl, der das ganze Gesicht der Quälerin besudelte ... Ich habe nie etwas so Furchtbares gesehen und es war so furchtbar, mein Liebling, daß Annie und ich ohnmächtig wurden ... Ich denke immer daran! ...

Mit einem bedauernden Ausdruck fügte sie hinzu:

- Dieses Weib hatte an einem Finger einen großen Rubin, der während der Qual in der Sonne auf und ab ging wie ein rothe, tanzende Flamme ... Annie kaufte ihn ... Ich weiß nicht, was aus ihm geworden ist ... Ich möchte ihn so gerne haben.

Clara schwieg, ihr Geist war ohne Zweifel zu den unreinen und blutigen Bildern dieser scheußlichen Erinnerung zurückgekehrt ...

Einige Minuten später enstand in den Zelten und unter der Menge ein Geräusch. Durch meine schweren Lider, die sich wider meinen Willen bei dem Schrecken dieses Berichts fast geschlossen hatten, sah ich Kleider und wieder Kleider, und Sonnenschirme und Fächer, und glückliche Gesichter und verwünschte Gesichter tanzen, durcheinander quirlen, vorwärts stürzen ... Es war wie ein Wirbel riesiger Blumen, wie ein Schwirren feenhafter Vögel ...

- Die Thore, theurer kleiner Liebling ... rief Clara ... Die Thore werden geöffnet! ... Komm' ... komm' rasch! ... Und sei nicht länger traurig, ach, ich flehe Dich an! ... Denk' an all' die schönen Dinge, die Du sehen wirst und von denen ich Dir erzählt habe! ...

Ich erhob mich ... Sie nahm mich beim Arm und zog mich mit sich fort, ich wußte nicht, wohin ...

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