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Der Garten der Qualen

Octave Mirbeau

Kapitel II.5

Der Garten der Qualen nimmt im Mittelpunkte des Gefängnisses einen Riesenraum von Viereckform ein, der durch Mauern umschlossen ist, von deren Steinwerk man nichts mehr sehen kann, da sie dicht mit rebenartigen Gewächsen und Schlingpflanzen bedeckt ist. Er wurde in der Mitte des vorigen Jahrhunderts von Li-Pé-Hang, dem Verwalter der kaiserlichen Gärten angelegt, von dem gelehrtesten Botaniker, der je in China gelebt hat. Man kann in den Sammlungen des Museums Guimet zahlreiche Werke zu Rathe ziehen, die seinen Ruhm verkünden, desgleichen äußerst seltsame Kupferstiche, auf denen seine bedeutendsten Arbeiten wiedergegeben sind. Die bewundernswerthen Gärten von Kiew - die einzigen, die uns in Europa voll und ganz befriedigen können - verdanken ihm viel in Hinsicht auf die technische Anlage, sowie auch vom Gesichtspunkte des Blumenschmuckes und des landwirtschaftlichen Arrangements. Doch sind sie noch weit entfernt von der reinen Schönheit der chinesischen Vorbilder. Nach Claras Meinung fehlt ihnen jene Anziehungskraft des Haut goût, in dem Qualen mit der Gartenbaukunst, Blut mit Blumen vermengt sind.

Der Boden, der einst aus Sand und Kieselsteinen bestand, wie der größte Theil dieser unfruchtbaren Ebene, wurde tief ausgehölt und mit Gartenerde, die mit großen Kosten vom anderen Ufer des Flußes herbeigebracht wurde, wieder ausgefüllt. Es wird berichtet, das mehr als dreißigtausend Kulis am Fieber während dieser gigantischen Erdarbeiten, die fünfundzwanzig Jahre lang dauerten, umkamen. Diese Hekatomben scheinen nicht umsonst gebracht worden zu sein. Mit dem Erdboden gleich Düngung vermischt, verbesserten die Todten - denn sie wurden an Ort und Stelle eingescharrt - durch ihre langsame Verwesung das Erdreich und nirgends, selbst nicht im Herzen der phantastischen Tropenwälder gibt es einen an natürlichem Humus reicheren Boden.

Seine außergewöhnliche Vegetationskraft, weit davon entfernt sich auf die Dauer erschöpft zu haben, vermehrt sich heute noch durch den Unrath der Gefangenen, durch das Blut der Hingerichteten, durch all die organischen Reste, die die Menge jede Woche ablagert und die sorgsam zusammengesucht und in geschickter Weise mit den täglich zur Verfügung stehenden Leichnamen in eigenen Verwesungsstätten bereitet werden; so wird ein äußerst kräftiger Compost geformt, den die Pflanzen gierig verzehren und der ihnen größeres Wachsthum, Kraft und Schönheit verleiht.

Kanäle des Flußes, die in genialer Weise quer durch den Garten vertheilt sind, unterhalten nach dem Bedürfniß der betreffenden Pflanzung eine feuchte Frische, die sich steigend erhält; zu gleicher Zeit dienen sie dazu, Wasserbecken und Rinnen zu füllen, deren Wasser sich ohne Unterlaß erneuert und in denen beinahe verschwundene zoologische Formen, unter anderen der berühmte Fisch mit den sechs Buckeln, der von Yu-Sin und unserem Landsmann, dem Dichter Robert de Montesquiou besungen wurde, erhalten worden sind.

Die Chinesen sind unvergleichliche Gärtner, weit überlegen unseren groben Blumenzüchtern, die keinen andern Gedanken haben als die Schönheit der Pflanzen durch achtungslose Praktiken und verbrecherische Bastarderzeugung zu zerstören. Sie sind wirkliche Missethäter, ich begreife nicht, daß man noch niemals daran gedacht hat, im Namen des Weltalllebens strenge Strafgesetze gegen sie und ihr Thun zu erlassen. Es wäre mir sogar angenehm, wenn sie ohne Mitleid einen Kopf kürzer gemacht würden, viel eher als die bleichen Mörder, deren soziales Decimirsystem mir sogar löblich und wohl angebracht erscheint, da es sich meist nur gegen alte, furchtbar häßliche Weiber und gemeine Spießbürger richtet, die eine ständige Beschimpfung des Lebens vorstellen. Nicht nur, daß unsere Gärtner die Niedertracht soweit getrieben haben, die rührende und reizende Grazie der einfachen Pflanze zu entstellen, sie wagten auch den herabsetzenden Scherz, der Zierlichkeit der Rosen, dem Sternenschimmer der Waldreben, dem firmamentartigen Ruhm des Rittersporns, dem heraldischen Geheimnis der Schwertlilien, der Verschämtheit der Veilchen Namen alter Generale und entehrter Politiker zu geben. Es gehört nicht gerade zu den Seltenheiten, wenn man in unseren Gärten zum Beispiel eine Schwertlilie trifft, die "General Archinard" getauft ist; es gibt Narzissen - Narzissen! - die in grotesker Weise den Namen "Der Triumph des Präsidenten Felix Faure" tragen; Stockrosen, die ohne Widerspruch die lächerliche Benennung "Trauer für Herrn Thiers" tragen. Veilchen, schüchterne, freundliche und entzückende Veilchen, denen Namen wie "General Skobeleff" und "Admiral Avellan" nicht als beleidigende Spitznamen erschienen! ... Die Blumen, die doch lauter Schönheit, lauter Licht und lauter Freude sind, auch lauter Liebkosung, sollen auf diese Weise an die Schnurrbartköpfe und das schwere Schafleder eines Soldaten erinnern oder auch an die parlamentarische Unverschämtheit eines Ministers ... Da die Blumen auch verschiedene politische Erinnerungen zum Ausdruck bringen, dienen sie dazu, Propaganda bei Wahlen zu machen. Welcher Verirrung, welchem geistigen Niedergange mögen solche Lästerungen entsprechen, solche Attentate auf die Göttlichkeit der Dinge? Wenn es möglich wäre, daß ein vollkommen seelenloses Wesen Haß gegen die Blumen empfände, würden die europäischen Gärtner und im besonderen die französischen Gärtner dieses Paradoxon, diese offenbare Heiligthumschändung erfüllt haben ...

Als vollkommene Künstler und naive Dichter haben die Chinesen fromm die Liebe und den religiösen Kult der Blumen bewahrt. Es ist dies eine der sehr seltenen und sehr alten Überlieferungen, die ihren Niedergang überlebt haben. Und wie man wohl zwischen den einzelnen Blumen einen Unterschied machen muß, haben sie ihnen gleichzeitig graziöse Analogien beigegeben, Traumbilder, Namen der Reinheit oder der Wollust, die fortdauern lassen und harmonisch verbinden, was nur in unserem Geiste an Gefühlen sanften Entzückens und leidenschaftlichen Rausches durch sie erwirkt wird. So geschieht es, daß die Chinesen gewisse Mohnblumen, ihre liebsten Blumen überhaupt, nach ihrer Form und Farbe mit jenen entzückenden Namen begrüßen, die jeder einzelne für sich ein ganzes Gedicht und ein ganzer Roman sind: "Das junge Mädchen, das seine Brüste darreicht" oder "Das unter dem Monde ruhige Wasser" oder "Die Sonne im Forste" oder "Das erste Verlangen der schlafengegangenen Jungfrau" oder "Mein Kleid ist nicht mehr ganz weiß, da der Sohn des Himmels, indem er es zerriß, ein wenig rosiges Blut daran hängen ließ" oder auch nur diese: "Ich genoß meines Freundes Liebe im Garten".

Und Clara, die mir diese hübschen Sachen erzählte, rief entrüstet, indem sie mit ihren kleinen Füßen, die in gelben Schuhen steckten, auf den Boden stampfte:

- Und diese göttlichen Poeten, die ihre Blumen "Ich genoß meines Freundes Liebe im Garten" nennen, behandelt man als Affen und Wilde.

Die Chinesen haben allen Grund, stolz auf den Garten der Qualen zu sein, den schönsten, den es vielleicht in ganz China giebt, wo doch wunderbare Gärten in großer Menge zu finden sind. In diesem sind die Quintessenzen ihrer seltensten Blumen, der zartesten sowohl wie auch der mächtigsten Blumen, die von den Firnfeldern des Gebirges herbeigeholt wurden und solche, die in den glühenden Schmelzöfen der weiten Ebenen wachsen, ferner geheimnißvolle, wilde Blumen, die sich in den undurchdringlichsten Wäldern verbergen und in die der volksthümliche Glaube Seelen von bösen Genien versetzt hat. Von dem Wurzelbaum bis zur Felsazalee, von dem hörnigen und zweiblumigen Veilchen bis zu den Nepenthen, vom Hibicus volubilis bis zur stoloniferen Helianthe, von der Androsace, die unsichtbar in ihrer Felsspalte ist, bis zu den wild sich schlingenden Lianen, ist jede Art durch zahlreiche Exemplare vertreten, die organische Nahrung erhalten und nach kunstvollen Riten von gelehrten Gärtnern behandelt werden. So entfalten sie sich in übernatürlicher Weise. Es ergeben sich Farbenbildungen, die wir in unserem traurigen Klima und unseren kunstlosen Gärten uns kaum in ihrer überwältigenden Schönheit auch nur vorstellen können.

Ein weites Wasserbecken, über das eine hölzerne, hellgrün getünchte Brücke bogenförmig geschlagen ist, nimmt den Mittelpunkt des Gartens ein, an der Sohle eines kleinen Thales, in das zahlreiche gewundene Baumreihen münden, sowie blumengeschmückte Wege von leichter Zeichnung und harmonischem Bau. Lotosblumen und Wasserrosen beleben die Teichfläche mit ihren riesigen Blättern und ihren gelben, malvenfarbenen, weißen, rosigen und purpurnen Blumen, dicke Irisdolden heben sich auf den feinen Stengeln empor, auf deren Spitzen seltsam symbolische Vögel zu nisten scheinen, daneben Butomen, Cyperen gleich menschlichem Haar, riesige Luzulen mischen ihr tolles Laub mit den phallos- und wulwenförmigen Auswüchsen der verblüffendsten Arumgewächse. Durch eine geniale Combination erheben sich an den Ufern des Wasserbeckens zwischen Skolopendren, den Trollblumen und Alanten kunstvoll gebaute Bohrblumen und biegen sich über das Wasser, das das Blau ihrer heruntersinkenden, im Winde sich wiegenden Dolden spiegelt. Und Kraniche mit perlgrauem Gefieder und seidigem Kopfschmuck, scharlachrothen Füßen, weiße Reiher und weiße Störche mit blauem Nacken aus der Mandschurei spazieren auf dem Grase in indolenter Grazie und priesterlicher Majestät herum.

Hier und dort, wo die Erde hervortrat und auch rothe Felsen, erschien alles mit zwerghaftem Farrenkraut, Androsaceen, Saxifragen und gesträuchigen Kletterpflanzen tapeziert. Von schlanken und graziösen Kiosken sah man die Spitze oberhalb der Bambus- und Cedernbäume, die goldigen Dächer und den zierlichen Bau der hervorstehenden Hölzer, die kühne Windungen beschreiben und scharf aufwärts gebogen sind. Längs der Abhänge giebt es eine Unzahl von verschiedenen Pflanzenarten. Epimeden, die zwischen den Steinen grünen, mit ihren zierlichen, stetig beweglichen und gleich Insekten herumschwirrenden Blumen; orangenfarbene Hemerocalden, die dem Sphinx ihren Kelch einen Tag lang bieten, weiße Oenotheren, deren Blüthe nur eine Stunde lang dauert, fleischige Opuntien, Comeconen, Moreen, ganze Felder und Wiesenabhänge, ein förmlicher Strom von Primeln, den chinesischen Primeln, die so ungeheuer viel Formen und Farben annehmen können und von denen wir in unseren Treibhäusern nur armselige Abbilder besitzen. Und noch eine zahllose Menge von reizenden und seltsamen Formen. Und rings um die Kioske, zwischen den Rasenflächen auf den weiten windbewegten Blumenperspektiven war es, als ob ein rosiger, malvenfarbiger und weißer Regen niederginge, ein Schwirren von Farbennuancen wie das Treiben in einem Ameisenhaufen, ein Opal-, Milch- und Perlmutter-Irisiren, das so zart und schnell veränderlich erschien, daß man unmöglich mit Worten den unendlichen Zauber und den unaussprechlichen Reiz dieses Edeus wiedergeben kann.

Wie waren wir nur hierhergebracht worden? Ich hätte es beim besten Willen nicht sagen können ... Plötzlich hatte sich unter Claras Hand eine Thür an der Mauer des dunklen Ganges geöffnet. Und mit einem Male waren wir wie durch den Zauber des Ringes einer Fee draußen gewesen, eine Summe himmlischen Lichtes drang in mich und ich sah wundervolle Horizonte von mir aufsteigen.

Ich schaute entzückt drein, geblendet von dem sanften Lichte, entzückt von dem nicht mehr allzu heißen Himmel, entzückt selbst von den großen bläulichen Schatten, die die Bäume weich auf den Rasen warfen, gleich weichlichen Teppichen; entzückt von dem beweglichen Feenschauspiel der Blumen, den Balken von Mohnblumen, die durch leichte Netze vor dem tödtlichen Kuß der heißen Sonne geschützt wurden. Nicht weit vor uns stäubte auf einer dieser Wiesen ein Apparat Wasser aus, in den: sich alle Farben des Regenbogens spiegelten, durch welchen gesehen der Rasen und die Blumen das Farbenspiel von Edelsteinen annahmen.

Ich sah gierig hin, ohne des Schauspiels müde zu werden .... In diesem Augenblick bemerkte ich keine der Einzelheiten, die ich mir später wieder ins Gedächtniß zurückrief. Ich sah nur eine Summe von Geheimnissen und von Schönheit, deren plötzliches, tröstendes Erscheinen ich mir nicht zu erklären suchte. Ich fragte mich nicht einmal, ob es Wirklichkeit sei, was mich umgab oder auch nur Trugbild ... Ich fragte mich nichts ... ich dachte an nichts ... ich sagte nichts ... Clara sprach, sie sprach immer weiter ... Zweifellos erzählte sie mir noch Geschichten und aber Geschichten ... Ich hörte nicht auf sie und fühlte sie auch gar nicht mehr neben mir. In diesem Augenblick war ihre Anwesenheit an meiner Seite für mich in weite Ferne gerückt! So ferne wie ihre Stimme ... und so ganz unbekannt!

Endlich erhielt ich nach und nach wieder Gewalt über mich, über meine Erinnerungen, über die Wirklichkeit der Dinge und begriff so, warum und weshalb ich mich hier befinde ...

Beim Verlassen der Hölle, noch gelblichweiß vor Schreck über die Gesichter der Verurtheilten, die Nüstern noch ganz von diesem Verwesungs- und Todtengeruch erfüllt, die Ohren noch von dem Jammergeheul der Gefolterten klingend, gab mir der Anblick dieses Gartens plötzliche Beruhigung, nachdem ich etwas wie unbewußte Begeisterung, wie unwirkliches Klimmen meines ganzen Ichs zum Zauber eines Traumlandes gefühlt hatte ... Mit Entzücken sog ich aus voller Brust die neue Luft ein, die von soviel feinen und zarten Düften durchtränkt war ... Dies glich der unbeschreiblichen Freude des Erwachens nach einem schweren Traume ... Ich genoß die mit Worten gar nicht auszudrückende Wonne eines Menschen, der befreit wird, nachdem er in einem fürchterlichen Knochenhaus begraben war, dessen Stein aufhebt und im hellen Sonnenlicht mit unverletztem Leibe, freien Organen und einer nagelneuen Seele, sich wiedergeboren fühlt ...

Eine Bambusrohrbank befand sich neben mir, im Schatten einer riesigen Esche, deren purpurne Blätter im Lichte glänzend, die Illusion eines Rubinendomes gaben ... Ich setzte mich oder ließ mich vielmehr auf die Bank fallen, denn die Freude an all diesem herrlichen Leben ließ mich jetzt vor ungekannter Wollust beinahe die Besinnung verlieren.

Und ich sah zu meiner Linken als steinerner Hüter dieses Gartens einen Buddha, der auf einem Felsen kauerte und uns sein ruhiges Gesicht zuwandte, sein Gesicht voll von majestätischer Güte, das über und über in Azur und Sonne gebadet war. Blumensträuße und Fruchtkörbe bedeckten den Fuß des Monumentes, als fromme, duftende Gaben. Ein junges Mädchen in gelbem Seidenkleid stellte sich auf die Fußspitzen, um die Stirne des furchtbaren Gottes erreichen zu können, die sie andächtig mit Lotus und Frauenschuh bekränzte ... Schwalben schossen durch die Luft und stießen freudige Schreie aus ... Da dachte ich - mit welch religiösem Entusiasmus, mit welch geheimnißvoller Andacht und Anbetung! - an das herrliche Leben des Mannes, der lange vor unserem Christus den Menschen Reinheit, Entsagung und Liebe gepredigt hatte ...

Doch gleich der Sünde über mich gebeugt, brachte mich Clara mit ihrem rothen, einer Georgine vergleichbarem Munde, Clara, mit grünen Augen, mit jenem grauen Grün, das die unreifen Früchte des Mandelbaumes zeigen, ohne Verzug zur Wirklichkeit zurück und sagte mir, indem sie mit einer weiten Bewegung den Garten bezeichnete:

- Sieh nur, mein Liebling, was die Chinesen für wunderbare Künstler sind und wie sie die Natur mitschuldig an ihrer raffinirten Grausamkeit zu machen wissen! ... In unserem gräulichen Europa, das seit so langer Zeit nicht mehr weiß was Schönheit ist, wird insgeheim, im Grunde von Gefängnissen oder auf öffentlichen Plätzen, inmitten betrunkenen Gesindels hingerichtet ... Hier geschieht dies von Blumen umgeben, inmitten des wunderbaren Zaubers und des überwältigenden Schweigens aller dieser Bäume, gerade hier werden die Folter- und Todesinstrumente, die Schandpfähle, die Galgen und die Kreuze aufgestellt ... Du wirst sie sehen, so innig vermengt mit den Wundern dieser Blumenorgie, mit der Harmonie dieser einzigen und magischen Landschaft, daß sie gewissermaßen mit ihr verwachsen scheinen, gleich seltsamen Blumen dieses Bodens und dieses Lichtes ...

Und da ich eine ungeduldige Bewegung nicht verbergen konnte:

- Du Dummkopf! meinte Clara ... Du kleiner Dummkopf, der gar nichts begreift! ...

Die Stirne von einer finsteren Falte durchkreuzt, fuhr sie fort:

- Höre mich an! ... Hast Du einmal, wenn Du traurig einen Festsaal betreten ... Hast Du dann gefühlt wie sehr Deine Trauer wie durch eine Beleidigung, durch die Freude der Gesichter, durch die Schönheit der Dinge vermehrt und unerträglich gemacht wurde ... Dieses Gefühl kann man in der That nicht aushalten ... Bedenke, wieviel schlimmer dies für den Sträfling sein muß, der inmitten furchtbarer Qualen hier sterben soll ... Überlege, wie sehr sich die Folter in seinem Leib und in seiner Seele durch den herrlichen Glanz, der sie umgibt, vergrößert ... und wie der Todeskampf wüthender, verzweifelnd wüthender dadurch wird, liebes Herzchen! ...

- Ich dachte an Liebe, antwortete ich in vorwurfsvollem Ton ... und jetzt sprechen Sie mir wieder, Sie sprechen mir ewig von Qualen! ...

- Zweifellos! ... Da dies doch aufs Gleiche herauskommt ...

Sie stand aufrecht neben mir, die Hände auf meine Schultern gelegt. Und der röthliche Schatten der Esche umgab sie gleich Feuergluth ... Sie ließ sich auf die Bank nieder und fuhr fort:

- Da es doch überall Qualen gibt wo man Menschen findet ... so ist dies doch nicht meine Schuld, mein Baby, und ich trachte eben mich daran zu gewöhnen und Genuß daran zu finden ... denn das Blut ist ein werthvoller Zusatz der Wollust ... Es ist der Wein der Liebe ...

Sie zeichnete mit der Spitze ihres Sonnenschirmes einige naiv schamlose Figuren im Sande und sagte:

- Ich bin überzeugt, daß Du die Chinesen für grausamer hältst als wir sind ... Nicht im geringsten! ... Keine Spur! ... Als wir, die Engländer? ... Ja sprechen wir davon! Und Ihr, die Franzosen? In Eurem Algier, an der Grenze der Wüste habe ich Folgendes gesehen ... Eines Tages nahmen Soldaten Araber gefangen ... arme Araber, die kein anderes Verbrechen begangen hatten, als die Roheiten ihrer Eroberer zu fliehen ... Der Oberst befahl sie auf der Stelle nieder zu machen, ohne Verhör, ohne Kriegsgericht ... Und Folgendes ereignete sich ... Es waren ihrer dreißig an der Zahl ... dreißig Löcher wurden in den Sand gegraben und dann verscharrte man sie bis zum Hals, nackt, mit rasiertem Schädel, in der mittäglichen Sonnengluth ... damit sie nicht so rasch erlägen ... begoß man sie von Zeit zu Zeit wie Kohlköpfe ... Nach Verlauf einer halben Stunde waren ihre Augenlider aufgedunsen ... die Augen traten aus den Höhlen, ... die entzündeten und verschwollenen Zungen erfüllten jeden einzelnen Mund, der in gräßlicher Weise aufgesperrt war, zur Gänze ... und die Haut zerplatzte und zerschliß auf den Schädeln ... Ich versichere Dich, diese dreißig todten Köpfe waren ohne jede Anmuth, selbst ohne jeden Schreck, sie starrten aus dem Boden empor, gleich formlosen Kieseln! ... Und wir? ... Das ist noch viel schlimmer! ... Ach, ich erinnere mich noch des seltsamen Gefühles, das ich hatte, als ich in Kandy, der alterthümlichen und dumpfen Hauptstadt von Ceylon, die Stufen des Tempels erklomm, wo die Engländer, thöricht, ohne Qualen, die kleinen Modeliarprinzen erwürgten, die uns durch die Sagen so reizend, gleich chinesischen Statuen, voll wunderbarer Kunst und priesterlich ruhiger und reiner Grazie, mit ihrem goldenen Schein und ihren langen gefalteten Händen, dargestellt waren ... Ich fühlte was sich dort ereignet hatte ... auf diesen geheiligten Stufen, die durch achtzig Jahre wüthender Besitznahme noch nicht von dem Blute rein gewaschen waren, es war dies ein schrecklicherer Vorgang, als die Niedermetzlung von Menschen; die Zerstörung einer köstlichen, rührenden, unschuldigen Schönheit ... In diesem im Todeskampfe liegenden und noch immer geheimnisvollen Indien trifft man bei jedem Schritt, den man auf dem altehrwürdigen Boden macht, die Spuren jener schandbaren europäischen Barbarei ... Die Straßen von Calcutta, die frischen Himalayavillen von Dardjilling, die Tribaden von Benares, die prunkvollen Häuser der Kaufleute von Bombay haben den Eindruck von Trauer und Tod nicht auslöschen können, den die Rohheiten kunstloser Metzeleien, von Vandalismus und thörichter Zerstörungswuth überall hinterlassen haben ... Im Gegentheil, sie unterstreichen diesen Eindruck nur noch mehr ... Und gleichgültig wo immer die Civilisation auftaucht, zeigt sie dieses Zwillingsgesicht unfruchtbaren Blutes und ewig erstorbener Ruinen; gleich Attila kann sie sagen: "Das Gras wächst nicht mehr, wo mein Pferd vorüber kam" ... Sieh' Dich hier um, sieh vor Dich hin ... Es gibt hier kein Sandkorn, das nicht in Blut gebadet wurde ... und selbst das Sandkorn ist doch wohl nur Todesstaub? ... Aber wie ausgiebig dieses Blut, wie fruchtbar dieser Staub ist! ... Sieh nur an ... das Gras ist fett ... die Blumen strotzen ... und überall herrscht die Liebe ...

Clara's Gesicht hatte einen edlen Ausdruck angenommen ... Sanfte Melancholie milderte die tiefe Falte ihrer Stirn und verhüllte die grünen Flammen ihrer Augen ... Sie begann von Neuem:

- Ach, wie traurig die kleine todte Stadt von Kandy, wie herzzereißend sie an jenem Tage aussah! ... In der vernichtenden Glut schwebte dumpfes Schweigen zugleich mit den Geiern über ihr ... Einige Hindus verließen den Tempel, wo sie Buddha Blumen gespendet hatten ... Die tiefe Sanftmuth ihrer Augen und ihrer Blicke, der Adel ihrer Stirn, die leidende Schwächlichkeit ihres Leibes, der vom Fieber verzehrt erschien, die biblische Langsamkeit ihrer Bewegungen, all dies ergriff mich bis in die Tiefe meiner Seele ... Sie schienen in Verbannung zu leben auf ihrer heimatlichen Erde, nahe ihrem sanften, in Ketten gelegten und von Sipoys bewachten Gotte ... Und in ihren schwarzen Augensternen lag nichts Irdisches mehr ... nur noch ein Traum von körperlicher Befreiung, das Erwarten des lichterfüllten Nirvana ... Ich weiß nicht, welch menschliche Achtung mich davor zurückhielt, angesichts der Schmerzen dieser verehrungwürdigen Väter meiner Rasse, meiner vatermörderischen Rasse, in die Kniee zu sinken ... Ich begnügte mich damit, sie demüthig zu grüßen ... Aber sie gingen vorüber ohne mich zu sehen ... ohne meinen Gruß ... ohne die Thränen in meinen Augen ... und die kindliche Rührung, die mir das Herz zusammenpreßte, zu bemerken ... Und als sie vorübergegangen waren, fühlte ich, daß ich Europa haßte, mit einem Haß, der nie entschwinden wird ...

Sie unterbrach sich plötzlich und fragte mich:

- Aber das langweilt Dich, sage? Ich weiß nicht, warum ich Dir all' dies erzähle ... Das hat doch gar keinen Zusammenhang ... Ich bin wahnsinnig! ...

- Nein ... nein ... liebe Clara, antwortete ich, indem ich ihr die Hände küßte ... Ich liebe Sie im Gegentheil umsomehr, wenn Sie in dieser Weise zu mir sprechen ... Sprechen Sie doch immer so zu mir! ...

Sie fuhr fort:

- Nachdem ich den armen und nackten Tempel, den am Thor ein Gang, - der einzige Überrest früherer Reichthümer - schmückte, besucht hatte, nachdem ich den Duft der Blumen, mit denen das Buddha-Standbild bedeckt war, eingesogen hatte, ging ich melancholisch nach der Stadt zurück ... Sie lag verlassen da ... Als ein groteskes und düsteres Sinnbild des westlichen Fortschrittes trieb sich dort nur ein Pastor - das einzige menschliche Wesen herum - indem er die Mauern streifte und eine Lotusblume im Schnabel trug ... Unter dieser blendenden Sonne hatte er, wie im großstädtischen Nebel, seine karikirende Clergyman-Uniform, schwarzen weichen Hut, langen schwarzen Rock, mit steifem, fettigem Kragen behalten, sowie die schwarze Hose, die in jämmerlichen Falten auf seine riesigen Fuhrknechtsstiefel herabfiel ... Dieses klägliche Seelsorgerkleid war von einem weißen Sonnenschirm, einer Art von tragbarer und zerlegbarer Punka begleitet, die einzige Conzession, die dieser Kerl den Localsitten und der Sonne Indiens gemacht hatte, welche die Engländer bis jetzt noch nicht in Schweißnebel umzuwandeln vermochten. Und ich dachte nicht ohne Ärger, daß man vom Äquator bis zum Pol keinen Schritt machen kann, ohne diesem verdächtigen Gesicht, diesem gierigen Auge, diesen verkrampften Händen, diesem scheußlichen Mund zu begegnen, der über die reizenden Gottheiten und die anbetungswürdigen Mythen der kindlichen Religionen, zugleich mit Ginduft den Schrecken der biblischen Verse hinhaucht.

Sie war ganz eifrig geworden. Ihre Augen trugen den Ausdruck hochherzigen Haßes, den ich an ihr noch nicht kannte. Des Ortes, an dem wir uns befanden, ihrer verbrecherischen Begeisterung und ihrer blutigen Überspanntheit vergessend, sagte sie:

- Überall wo vergossenem Blute ein Schein von Recht gegeben, Freibeutereien gebilligt, Vergewaltigungen gesegnet werden sollen, ist man sicher diesen brittanischem Tartuffe, unter dem Vorwande religiöser Propaganden oder wissenschaftlicher Studien, das Werk schandbarer Erroberung vollführen zu sehen. Sein gemeiner, wilder Schatten hebt sich von der Verzweiflung besiegter Völker, begleitet von dem des würgenden Soldaten und des ranzigen Shylok, ab. Im Urwalde, auf der Schwelle der armseligen verwüsteten Strohhütte, zwischen in Brand gesteckten Behausungen, wo der Europäer mit Recht mehr denn ein Tiger gefürchtet ist, erscheint er nach der Metzelei, wie am Abend nach einem Kampfe die Hyänen des Schlachtfeldes auftauchen, um die Todten zu berauben. Er ist übrigens ein würdiges Seitenstück seines Concurrenten, des katholischen Missionärs, der auch seinerseits Civilisation mit Fackeln, Schwertern und Bayonett einführt ... Ach leider! ... China wird von diesen beiden Geiseln überschwemmt und zerstört ... In einigen Jahren wird von diesem wundervollem Lande, in dem ich so gerne weile, nichts übrig bleiben! ...

Plötzlich stand sie auf und stieß einen Schrei aus:

- Und die Glocke, mein Liebling! ... Die Glocke ist nicht mehr zu hören ... Ach, mein Gott ... er wird gestorben sein! ... Während wir hier müssig plauderten, wird er jedenfalls zum Schindanger gebracht werden ... Und wir bekommen ihn nicht zu Gesicht! ... Daran bist auch Du Schuld ...

Sie zwang mich die Bank zu verlassen ...

- Rasch! ... rasch! ... mein Herz! ...

- Das eilt doch nicht, meine liebe Clara ... wir werden noch immer Entsetzliches genug zu sehen bekommen ... Sprich noch zu mir weiter, wie Du es vor einem Augenblick gethan, da ich Deine Stimme und Deine Augen so sehr liebte!

Sie wurde ungeduldig:

- Rasch! ... rasch! ... Du weißt nicht was Du sagst! ...

Ihre Augen waren wieder hart, ihre Stimme athemlos, ihr Mund befehlshaberisch grausam und sinnlich geworden ... Mir schien, daß selbst der Buddha jetzt seltsam beleuchtet, eine grinsende Henkerfratze schnitt und ich bemerkte, daß das junge Mädchen mit den Spenden sich durch eine Allee zwischen den Wiesen da hinten entfernte ... Ihr gelbes Kleid war winzig, leicht und strahlend, gleich einer Narzisse.

Der Weg, den wir einschlugen, war durch Pfirsich-, Kirschen-, Quitten- und Mandelbäumen eingesäumt, von denen die einen zwerghaft und in bizarren Formen verschnitten, die andern frei und dicht, nach allen Seiten ihre langen, mit Blumen beladenen Zweige ausstreckten. Ein kleiner Apfelbaum, dessen Holz, Blätter und Blüthen lebhaft roth gefärbt waren, ahmte die Form einer dickbäuchigen Vase nach. Mir fiel auch ein wunderbarer Baum auf, der Birnbaum mit den Birkenblättern genannt wurde. Er erhob sich in einer vollkommen geraden Pyramide bis zur Höhe von sechs Metern, und von der breiten Grundfläche bis zum spitzkegeligen Gipfel war er dermaßen mit Blüthen bedeckt, daß man weder sein Laub noch seine Zweige unterscheiden konnte. Unzählige Blüthenblätter fielen ohne Unterlaß, während andere sich öffneten; sie schwebten um die Pyramide und sanken langsam auf die Wege und Rasenflächen nieder, die sie mit schneeiger Weiße bedeckten. Und die Luft füllte sich bis in die weite Ferne mit dem feinem Dufte wilder Rosen und Reseda. Dann kamen wir an großen Baumgruppen vorbei, die neben kleinblüthigen Deutzias mit breiten, rosigen Doldentrauben jene hübschen Rainweiden von Peking mit dichtem Laubwerk und großen Federbüschen an den weißen, mit Safran bepuderten Blüthen, verzierten.

Bei jedem Schritte gab es eine neue Freude, eine Überraschung für die Augen, die mir Rufe der Bewunderung entlockten. Hier umschlang eine Rebe, deren breite, hellgelben Blätter wie unregelmäßig gezackt und spitzenartig erschienen, die ich bereits in den Gebirgen von Annam bemerkt hatte, den breiten Ricinusblättern vergleichbar, mit ihren riesigen Fühlern einen abgestorbenen Baum; sie stiegen bis zu den Bruchstellen der Zweige hinauf und fielen von dort wie ein Wasserfall, wie ein Strom, wie eine Lawine herab, indem sie eine Schattenflora beschützten, die auf dem Boden zwischen dem Schiffe, den Colonnaden und den Nischen, die von diesen Gewächsen gebildet wurden, gedieh. Da breitete ein Stephanander sein merkwürdiges, gleich einer Scheidewand gebildetes Laub aus, das mich entzückte, da es alle Arten von Farben, vom Pfauengrün bis zum Stahlblau, vom zarten Rosa bis zum barbarischem Purpur, vom hellen Gelb bis zum braunen Oker durchlief. In nächster Nähe schüttelte eine Gruppe gigantischer Biburnums, die hoch wie Eichen waren, ihre dicken Schneeballen, die am Ende jedes Zweiges hiengen.

Von Stelle zu Stelle knieten Gärtner im Grase oder hockten auf rothen Leitern und befestigten Schlingpflanzen auf feinen Bambusgestellen; andere banden Trichterwinden und weiße Zaunweiden an lange dünne Schutzstäbe aus schwarzem Holz ... Und überall erhoben auf den Wiesen die Lilien ihre Stengel, deren Blüthen im Begriffe waren sich zu erschließen.

Die Bäume, die Sträucher, das Dickicht, die einzeln oder in Gruppen wachsenden Pflanzen schienen auf den ersten Blick durch den Zufall des Samens, ohne Methode, ohne Kultur, ohne einen anderen Willen als den der Natur, ohne eine andere Laune als die des Lebens gewachsen zu sein. Das war ein Traum. Der Platz jeder einzelnen Pflanze war im Gegentheil mühsam studiert und ausgewählt worden, sei es damit die Farben und Formen sich ergänzten, einander besser zur Geltung brachten, sei es um das Gesammtgebilde, die Durchhaue, die blumigen Ausblicke zu bilden und so die Eindrücke, indem die Zier verwickelte Formen erhielt, zu vervielfältigen. Die armseligsten Blumen nahmen gleich dem riesenhaften Baum, schon durch ihre Lage an einer unbeugsamen Harmonie, an einem künstlerischen Gesammtbilde theil, dessen Wirkung umso überwältigender war, als man weder geometrische Arbeiten, noch schmückende Anstrengung bemerkte.

Alles schien durch die Üppigkeit und Freigebigkeit der Natur zum Triumph der Mohnblumen eingerichtet zu sein.

Auf sanft ansteigenden Hügeln waren statt Rasen duftende Sternleberkräuter und rosige Kreuzblütler gesäet, von dem verblichenem Rosa alter Seidenstoffe; und Mohnblumen, ganze Felder baumartiger Mohnblumen erhoben sich von diesem prunkvollen Teppich. Nahe von uns streckten vereinzelte ihre rothen, schwarzen, kupferigen, orangefarbenen und purpurnen Riesenkelche aus. Andere boten in idealer Reinheit die jungfräulichsten. Nuancen vom Rosa bis zum Weiß. In dichter Menge vereint, oder auch einzelstehend am Rande des Weges, nachdenklich am Fuße der Bäume, verliebt längs des Dickichts waren die Mohnblumen in der That die Feen, die wunderbaren Königinen dieses Wundergartens.

Überall begegnete der Blick, wohin er sich auch wandte, einer Mohnblume. Auf den steinernen Brücken, die gänzlich mit Felspflanzen bedeckt waren, auf den Brücken, die durch ihre kühn geschwungenen Bogen die Steinblöcke verbanden und einen Übergang zwischen den einzelnen Kiosken bildeten, standen Mohnblumen gleich einer festfrohen Menge. Ihre strahlende Prozession stieg die Abhänge hinauf, um die herum die Wege und Fußpfade sich kreuzten, und vereinigten sich unter winzigen silbernen Spindelbäumen und zu Hecken verschnittenem Hartriegel. Ich bewunderte ein Beet, das auf einem Hügel gelegen war, wo sich auf niedrigen, weißen, wendeltreppenartig angelegten Mauern, durch Matten beschützt, die kostbarsten Mohnarten dehnten, die geschickte Künstler in vielfachgeformten Spalieren angebracht hatten. In den Breschen dieser Mauern wuchsen in viereckigen Kästen uralte Mohnstauden, die Bälle auf hohen nackten Stengeln bildeten. Und ihr Haupt krönte sich mit dichtem Gebüsch, der freiaufwachsenden geheiligten Pflanze, deren Blüthe, die in Europa so vorübergehend ist, hier durch alle Jahreszeiten hindurch andauert. Zu meiner Rechten, zu meiner Linken, in nächster Nähe oder auch verloren in fernen Ausblicken, gab es noch, gab es stets Mohnblumen, Mohnblumen und wieder Mohnblumen ...

Clara begann wieder rascher einherzuschreiten, fast gleichgültig gegen diese Schönheiten; sie gieng mit trüb umwölkter Stirn, während ihre Augen glühten, vorwärts ... Es war, als ob sie durch eine Zerstörungskraft weiter getrieben würde ... Was sie sprach, vernahm ich nicht oder nur ganz undeutlich! Die Worte "Tod, Zauber, Folter, Liebe", die ohne Unterlaß von ihren Lippen kamen, schienen mir wie fernes Echo, ein leises, kaum unterscheidbares Glockenläuten, in weiter, weiter Ferne, zerronnen in Ruhm, in Triumph, in der reinen und grandiosen Wollust dieses überwältigenden Lebens.

Clara schritt weiter, immer weiter und ich gieng neben ihr her, überall sahen wir neben neuen Überraschungen von Mohnblumen, traumhafte oder wahnsinnige Dickichte, blaue Spindelbäume. Stechpalmen mit wilden Federbüschen, zierliche, haarige Magnolien, Zwerg-Zedern, wie Frisuren gekräuselt, Aralien, hohe Gramineen, riesige Eulalien, deren bandförmige Blätter gleich goldigen Schlangenhäuten herabsanken und wellig bewegt waren. Es gab auch tropische Düfte unbekannter Bäume, auf deren Stamm sich unreine Orchideen wiegten, verschiedene Bananenbäume, die durch vielfache Wurzeln den Boden durchdrangen, ungeheure Bananen und unter dem Schutz ihrer Blätter Blumen, die Insekten, die Vögeln glichen, wie die feenhafte Strelitzia, deren gelbe Blumenblätter Flügel sind, die sich in einem unablässigen Fluge befinden.

Plötzlich blieb Clara stehen, als ob ein roher, unsichtbarer Arm sie angefaßt hätte.

Nervös, unruhig, mit vibrirenden Nüstern, gleich einer Hirschkuh, die im Winde den Geruch des Männchens eingesogen hat, schnüffelte sie in der Luft rings herum. Ein Zittern, das, wie ich wußte, bei ihr der Vorläufer des Wollustzuckens war, durchlief ihren Körper, ihre Lippen wurden im selben Augenblick röther und schwellender.

- Hast Du gerochen? ... rief sie, mit kurzer, dumpfer Stimme.

- Ich rieche den Duft der Mohnblumen, der den ganzen Garten erfüllt ... antwortete ich.

Sie stampfte ungeduldig mit dem Fuße auf den Boden:

- Nein, das ist es nicht! ... Hast Du es nicht gerochen? ... Erinnere Dich doch nur! ...

Und während sich ihre Nüstern noch weiter öffneten und ihre Augen strahlender glänzten, sagte sie:

- Das riecht, wie wenn ich Dich liebe! ...

Dann beugte sie sich lebhaft über eine Pflanze, eine Wiesenraute, die am Rande des Weges ihren langen, feinen, steifen, astartigen, hell violet gefärbten Stengel aufrichtete. Jeder Achsenast entsprang einer elfenbeinfarbenen Scheide in Form eines Geschlechtsheiles und endete in einer Dolde winziger Blümlein, die dicht aneinander gedrückt und mit Pollen bedeckt waren ...

- Das ist sie! ... Das ist sie! ... Ach, mein Liebling! ...

In der That entstieg dieser Pflanze ein scharfer, phosphorhältiger Geruch, gleich dem menschlichen Samens ... Clara brach den Stengel und zwang mich den seltsamen Duft einzuathmen, dann bestäubte sie mir das Gesicht mit Pollen:

- O, mein Liebling! ... Liebling! ... rief sie ... Die schöne Pflanze ... Sie berauscht mich förmlich! ... Sie bringt mich außer mir! ... Ist es nicht merkwürdig, daß Blumen nach Liebe riechen? ... Sage warum? ... Du weißt es nicht? ... Nun schön, dann werde ich Dir's sagen ... Weshalb gäbe es so viele Blumen, die Geschlechtsteilen gleichen, wenn dies nicht deshalb geschähe, weil die Natur ohne Unterlaß den Lebewesen, durch alle ihre Gebilde und alle ihre Gerüche zurufen wollte: "Liebet Euch! ... Liebet Euch! ...thut wie die Blumen ... Die Liebe ist alles!" Sage auch, daß die Liebe über alles geht. O, sage es rasch, mein liebes angebetetes Schweinchen ...

Sie sog noch weiter den Duft der Wiesenraute ein, kaute die Blumen, deren Pollen an ihren Lippen festklebten. Und erklärte plötzlich:

- Ich will diese Blume in meinem Garten haben ... ich will sie in meinem Schlafzimmer sehen ... im Kiosk ... im ganzen Haus ... Riech nur, Herzchen, riech nur! ... Eine einfache Pflanze ... ist das nicht wunderbar! ... Und jetzt komm' ... komm! ... Wenn wir nur nicht zu spät bei ... der Glocke anlangen! ...

Mit einem Schmollen, das gleichzeitig komisch und tragisch war, sagte sie noch:

- Weshalb hast Du Dich auch so lange auf der Bank aufgehalten? ... Und sieh' doch alle diese Blumen nicht länger an ... Sieh' sie nicht an ... Du wirst sie nachher besser sehen ...nachdem Du Qualen und Tod erblickt hast. Du wirst sehen, wie schön sie sind, welch inbrünstige Leidenschaft ihr Duft ausathmet! ... Rieche nur noch mein Liebling ... und komm ... Und greife meine Brüste an ... Wie hart sie sind! Ihre Spitzen regen sich an dem Seidenstoff meines Kleides auf ... man möchte sagen, daß sie mit glühendem Eisen verbrannt wären ... Das ist köstlich ... komm' doch ...

Sie begann zu laufen, das Gesicht über und über gelb von Pollen, den Wiesenrautenkelch zwischen den Zähnen ...

Clara wollte nicht vor einem anderen Buddha-Standbild stehen bleiben, dessen verzerrtes und von der Zeit verwüstetes Gesicht im Sonnenlichte grinste. Ein Weib bot ihr Cidonienzweige an, deren Blumen Kinderherzchen glichen ... An einer Biegung der Allee kreuzten wir eine Bahre, die von zwei Männern getragen wurde und auf der eine Art von blutigem Fleischpacket, eine Art menschlichen Wesens zuckte, dessen Haut in Streifen geschnitten, auf dem Boden wie Fransen nachschleifte. Obwohl es unmöglich war, das geringste, menschliche Zeichen an dieser scheußlichen Wunde, die dennoch ein Mann gewesen war, unterscheiden zu können, bemerkte man, daß durch ein Wunder diese Masse noch athmete; und rothe Tropfen, Blutflecken, zeichneten sich auf dem Wege ab.

Clara pflückte zwei Mohnblumen und legte sie schweigsam mit zitternden Händen auf die Bahre nieder. Die Träger zeigten roh lachend ihre schwarzen Zähne und ihr zerfressenes Zahnfleisch und als die Bahre vorüber war, rief Clara:

- Ach! ... Ich sehe die Glocke ... ich sehe die Glocke ...

Und rings um die Bahre, die sich entfernte, rings um uns war es, als ob ein rosiger, malvenfarbiger und weißer Regen niederginge, ein Schwirren von Farbennuancen wie das Treiben in einem Ameisenhaufen, ein Opal-, Milch- und Perlmutter-Irisiren, das so zart und so schnell veränderlich erschien, daß man unmöglich mit Worten den unendlichen Zauber und den unaussprechlichen Reiz dieses Eden wiedergeben kann ...

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